Hommage an die Musik

Ballettereignis in Leipzig: Tanz-Hymnus auf Bach

  • Kilian Klenze
  • Lesedauer: 4 Min.
Unter den deutschsprachigen Choreografen ist er unbestritten die Nummer eins. Auf den ersten Blick würde man dem zierlichen, zerbrechlich wirkenden Uwe Scholz, Jahrgang 1958, kaum zutrauen, dass sein Werkverzeichnis sich rapide der magischen Zahl 100 nähert, wären da nicht die rastlosen Augen mit ihrer dunklen, schwermütigen Glut. In ihnen artikuliert sich jene Energie, mit der der »Mozart des Tanzes« seit nunmehr zwei Dezennien Ballette kreiert und dabei fast nebenbei so etwas wie einen Personalstil entwickelt hat. Von leichter Hand scheinen seine choreografischen Sinfonien entworfen und sind doch so prägnant, so formvoll und musikalisch, dass man den gründlichen Verfasser dahinter spürt. Scholz ist kein umtriebiger Schnellentscheider. Nur zwei Engagements haben ihm genügt, seinen Ruf zu begründen. Mit 26 ging er auf sechs Jahre nach Zürich, seit 1991 leitet er das Leipziger Ballett und führte es zu Ruhm weit über die Landesgrenzen hinaus. Was dort vor einem Jahrzehnt mit Haydns Oratorium »Die Schöpfung« begann und sofort aufhorchen ließ, das gipfelt nun, nach der vielbeachteten »Großen Messe« 1998 zu Musik Mozarts, anlässlich des persönlichen Leipzig-Jubiläums in einem choreografischen Hymnus auf Bach, den Leipziger Thomaskantor. Bereits 1996 hat Scholz mit den mehrteiligen »Bach-Kreationen« gewissermaßen die Vorarbeit für sein neues Opus geleistet. Auf das Kernstück des damaligen Abends, die Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis«, BWV 21, greift er in der Tat zurück und erweitert es durch die Missa h- Moll, BWV 232/I, als die Urform der späteren h-Moll-Messe zu einer choreografischen Brückenkonstruktion, die sich in so weitem wie kühnem Schwung über Bachs Kompositionen wölbt. Mit dem Gewandhausorchester unter Thomaskantor Georg Christoph Biller, dem links auf einem steilen Podest aus dem Orchester aufragenden Thomanerchor, einem erlesenen Sängerquartett und, nicht zuletzt, einem exzellent eingestimmten Leipziger Ballett als Interpreten wurde »Gloria in excelsis Deo« zu einem Gesamtkunstwerk von Rang und gleichsam zu einer Reverenz an Bach Vater. Bündelnde Kraft indes blieb Scholz als Choreograf und Ausstatter. Aus einer stehenden Reihe werden, ganz in Weiß, jene beiden Menschenseelen herausgehoben, die Scholz später dem solistischen Gesang beiordnet, ehe die Gruppe aufs Knie geht, um dann, zur Diagonalen klappend, den riesigen Raum in Besitz zu nehmen. Die Choreografie entwickelt sich dabei in engstem Wechselverhältnis mit der Musik. So korrespondiert das viergeteilte Ensemble mit den Stimmgruppen des Chores, wird jedoch immer wieder zu überwältigenden Bildern vereint, etwa einer sich öffnenden Blume, einer Gliederung aus Köpfen, konzentrischen, im Gegensinn gelaufenen Kreisen. Momente intensiver Spannung und intimer Zwiesprache mit Gott sind die Arien, im Tanz solistisch besetzt. Bald scheint die seufzende Seele, geschickt durch den Partner umgehoben, ratlos durchs All zu fliegen, bald schlägt sie bekümmert Wellen auf den weißen Rückvorhang. Fast atemlos gerät der Dialog zwischen der hingebungsvoll schmerzlich tanzenden Seele, deren Sopran-Pendant aus dem Orchester leuchtet, und dem Sänger des Jesus-Wortes, der mit auf der Bühne agiert. Im Kantaten-Schlusschor um die zufriedene Seele entfaltet sich das perfekte Körperkonzert zu einem Jubel aus strahlender tänzerischer Form. Da Scholz die Kantaten-Frühfassung gewählt hat, fehlt der übliche Schlusschor. Ein a cappella gesungener Hymnus übernimmt den Übergang zur Uraufführung des Abends. Dazu entkleidet er die Bühne gänzlich, lässt in verschiedenster Lage eine Brücke mit blauem Neonquadrat sinnreich über der Szene schweben und nähert sich den beiden Teilen der Missa, dem Kyrie und Gloria, heutig, indem er allen Tänzern Jeans verordnet, den Herren sogar freien Oberkörper. In der schier unendlichen, lichtblau gerasterten Weite steht zum einleitenden Kyrie-Chor still unterm Musikdom als einzige Gestalt die zage Seele und will in der zunehmenden Lichtfülle fast ertrinken. Mit mathematischer Akkuratesse komponiert Scholz wieder den Tanz in die Missa hinein, diesmal noch sparsamer, als wolle er das Primat der Musik demonstrieren. Alle äußerliche Virtuosität weicht dem verinnerlichten Miteinander von Text, Tanz und Klang, vom zärtlichen Duett über bewegungschorische Gruppierungen bis zu wundervoll verzahnten Parallelaktionen, und das immer unter der lichten Last des hängenden Brückenkarrees. Klagend umschlingen sich im Tanz die Körperlinien, formen sich Hände abwehrend gen Himmel, einmal im Liegen gar wundersam zum Kelch. Im abschließenden Coro des Gloria erreicht die choreografische Verweigerung, in der sich hier Scholz' Meisterschaft offenbart, ihren Höhepunkt in einem mächtigen Tableau aus stehend Zeigenden, die dann kniend mit halb ausgebreiteten Armen enden. Schlichter, demütiger, eindringlicher ist eine tänzerische Hommage an den Genius der Musik kaum denkbar.
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