Mein achtundfünfzigstes Weihnachten oder Die Dinge, die mich lieben

Dirk Werner

  • Lesedauer: 9 Min.
Die Frage nach den Einsamen in unserer Gesellschaft wird gerade um diese Jahreszeit gestellt. Doch was ist, wenn einer ausgerechnet zu Weihnachten die vertrauten Gesichter meiden will? Wenn er sich ganz allein in die Fremde aufmacht (in eine Fremde allerdings ganz in der Nähe)? Wenn er dabei Missgeschicke, die uns im Alltag in Rage bringen, fast wie Geschenke annimmt? Möglicherweise haben wir es dann mit einem Abenteuer zu tun. Das ja mit der Suche und dem Wunsch danach beginnt. Doch sind die Abenteuer in dieser Geschichte von anderer Art als die der Detektive Hollmes und Watzon, die wir sonst durch den Autor Dirk Werner erfahren. Denn es geht – zum Heiligabend – um nichts weniger als die Schönheit! Um das Entdecken des äußerlich Reizvollen als Abenteuer, als Ankündigung und Erinnerung. Denn Schönheit ist bekanntlich, nach Heinrich Mann, immer auch Glücksversprechen. Wie die Suche und das Entdecken selbst. Dass der Ich-Erzähler dabei noch wenig bekannte und ausgelebte Bezirke seines Selbst bereist und dass die Reise einen völlig unerwarteten Ausgang nimmt, versteht sich von allein.

Es klingt vielleicht lächerlich, was ich sage - sehen Sie mich an: Es ist lächerlich - aber es gibt etwas in meinem Leben, das genauso wichtig ist wie Wörter. Es sind die Frauen. Doch es ist so, dass ich erst durch Wörter den Frauen so richtig nahe komme. Worte und Frauen gehören für mich unabdingbar zusammen, etwa so, wie man durch Dinge, oder eben Menschen, eigentlich erst eine Idee bekommt von sich selbst. Und Worte versetzen mich in Achtung, wie sonst nur Frauen es tun. Oder es taten.

Manchmal, vor allem aber am vierundzwanzigsten Dezember, fahre ich in die benachbarte Stadt. Die, obschon geografisch nahe, keine Nachbarstadt ist, eher - Fremde. Ich kenne niemanden, habe weder Bekannte, Freunde noch Verwandte dort. Was aber in der Weihnachtszeit nicht schmerzt, ganz im Gegenteil. Am späten Vormittag trete ich aus dem Bahnhof, der ein ganz anderer ist als der zu Hause, irgendwie wirklicher. Ich trete aus dem alten Gebäude, das allein deshalb wahrer ist, weil es - wie einem Versprechen gemäß - zum Heiligen Abend hier regnet. In einem der Nebengebäude des alten Bahnhofs befindet sich eine Halle. Sie erscheint umso leerer, als dass man in ihr alles, wirklich alles, finden und kaufen kann, was man nicht braucht. Nie mögen könnte. Ein paar Sachen aber schon: Drei Schirme probiere ich aus; der erste, schon bezahlt, öffnet sich nicht, als ich heraus komme in das nass fallende Dämmern. In der ungeheuren Weite des Ramschladens probiere ich zwei weitere, und die Frau, diese Verkäuferinnenfrau, fällt mir erst jetzt auf. Sie ist unermesslich reich. Schätze beladener Körper. Bei meinem anschließenden Gang durch die Stadt kann ich sie bald nicht mehr vergessen. Dieses weibliche Reichsein, ein weibseiendes Reich, mischt sich mit allem. Mischt meine Erinnerung mit den Dingen in den Schaufenstern der Stadt.

In der Auslage eines Antiken-Geschäfts stoße ich auf eine kleine, auf einer Schiene verschiebbare Staffelei. Darauf ein Stück Pappe mit einer uralten Stadtansicht. In einiger Entfernung zur Staffelei sind drei verschieden große, verschieden starke Lupen in ein ebenfalls senkrechtes, mit Schnitzereien verziertes, dunkles Holz eingelassen. Es steht gleichfalls auf dieser Schiene, so dass Staffelei und Holzplatte gegeneinander verschoben werden können. Die ganze Apparatur dient einzig und allein dazu, um in aller Ruhe die Stadtansicht oder eine alte Postkarte oder eine Briefmarke betrachten zu können. Um - nicht aus, nicht in - zitternden Händen wertschätzen, blickweise liebkosen zu können. Dazu, um dieses Weib dort in dem Ramschladen zu betrachten, fällt mir ein; es zärtlich zu beforschen, mit Blicken gleich Vergrößerungslinsen u.s.w. Zu küssen sie, dachte ich, wäre noch besser - mit all ihren ausladenden Einladungen, erinnere ich mich, als ich die fein geputzten Lupengläser dort sehe. Um mich herum Regen, winzig herab fallende Prismen.

Indessen habe ich mir an einer Ecke einen Schirm gekauft. Betrachtete mir - im Scheibenanderen, etwas weiter - Segelboote, Yachten, Modellbauten also, im Maßstab von 1:20 oder 1:30 vielleicht. Die nehmen mich sofort mit auf Traumfahrten durch die engen Gassen, (sehen Sie her! könnte ich zu der Regenschirmverkäuferin sagen, steigen Sie auf). Die groß geträumten Segler heben mich heraus auch aus dieser Stadt. Mein Schirm ist aufgespannt wie die Segel, wie meine alten Hormone. - Ich werde hingehen und sie fragen, nur ein einziges Mal in meinem Leben sie fragen. Umkehren und sie, zwischen ihren Regalen mit all dem untergegangenen Design darin, fragen, ob. Und sie wird, wie hier diese kleinen wonnevollen Miniaturwindflüchter ganz stillstehen, sich nicht rühren unter dem Nichtwind des Ramschladenbinnenlandes, sich nicht rühren.

Manchmal denke ich, meine Hormone sind gar nicht in meinem Körper - oder jedenfalls nicht mehr -, obwohl sie es doch sein sollten. Meine Hormone lauern in einer fremden Stadt auf mich: bis ich hinkomme und sie herfallen können über mich. So auch wieder heute.

Bei der Post, noch nahe dem Bahnhof, wo ich vorhin einen verspäteten Weihnachtsgruß einwarf, zerriss plötzlich mein Uhrenarmband. Ich denke, auch das hat etwas mit ihr zu tun. Denn, drei Regenschirme probierte ich und keiner funktionierte, und sie öffnete sie und keiner ging, und jetzt riss auch noch das Armband entzwei - da gibt es sicher eine Verbindung. Nur ein einziges Mal, nur dieses, mehr würde nicht gehen, würde ich nicht wollen. Denn sie ist keine Frau für die Liebe, nur für die weihnachtlichen Schaufenster, für den Regen, der festliche Spiegel macht.

Irgendwann betrete ich das Kunstmuseum der Stadt. Ich weiß, Sie wollen gleich schließen, murmele ich der Aufsicht zu. Die Bilder begrüßen mich (unmerkliches Nicken), denn ich besuchte wiederholt die aktuelle Ausstellung. Jedes Mal sehe ich die Porträts neu. Nicht wie zum ersten Mal, das wäre langweilig, sondern neu. Ich komme her, um neu zu sehen. Deshalb nur bin ich aus dem inzwischen sehr feinen, unsichtbaren Regen herein getreten. Die Ausstellungssäle sind durch Stellwände in kleinere Räume aufgeteilt, jeder ein offenes U. Doch trete ich nicht durch die weite Öffnung in den Vokal. Hinten, an der Wand, schließen die Stellwände nicht ganz. Und so schiebe ich mich aus dem Innern eines U's durch diesen Spalt an der Wand entlang in das nächste. Dort trete ich wie aus den Bildern hervor. Andere Besucher gibt es nicht. Ich benutze diesen Weg mehrfach, mir zur Freude. Beim Heraustreten in den Regen atme ich auf.

Fahre ich also, nicht nur jetzt, immer wieder dorthin, um ein anderer zu werden? Und mich … der Liebe zu öffnen? Jaja, so ist es, immer wieder; die Erotik der Dinge in dieser fremden Stadt, nicht nur zu Weihnachten, die Auslagen der Frauen und Läden sind es. Fahre hin, um mich zu verlieren, meine ureigensten Dinge einzubüßen, und um - fremde - Dinge zu sammeln, aufzuheben, sie vor dem Verlust zu bewahren.

Der Nachmittag vor dem Heiligen Abend. Rückfahrt mit dem Zug. Es dunkelt. Vor mir, schräg gegenüber, sitzt eine Frau. Bevor ich auf ihre Schönheit zu sprechen komme, lassen Sie mich zuerst von ihrer Hässlichkeit reden. Ich weiß, Sie vergeben mir. Sehen Sie sich nur einmal Breughel an, und die Frau, die mir im Abteil schräg gegenüber sitzt, so hässlich ist sie, kein Wort werden Sie weiter verlieren.

Ich habe Muße, sie mir anzuschauen. Muße ist hier das falsche Wort, aber die Zugfahrt nach … dauert eine dreiviertel Stunde, hin wie zurück. Ich habe Zeit, mir so viele Einzelheiten einzuprägen, unbestechlich reihe ich Detail an Detail, und jedes bestätigt nur mein Gefühl, kein Urteil. Warum, denke ich, warum tut er das, wenn es einen Gott gibt, mit einem Herzen - warum? Ihr Gesicht, ihr Körper sind Unformen. Es, das Gesicht, er, der Körper, wirken aufgedunsen. Na klar, Wangen, na klar, Brüste, aber wo und wie, und die Schultern - …? Die Jacke sitzt knapp, aber die Brüste sind bei einem so runden Weib nicht rund, Stirn und Nasenrücken glänzen, die Augen, klein hinter, über Wülsten, klein. Wenn sie ihren Mund öffnet, ihren zu kleinen Mund, kleine, schiefe Zähne, die Nase platt gedrückt, die Augen, wie gesagt, viel zu winzig und: scheinbar ohne Ausdruck. Ohne Ausdruck, das heißt hier wohl, nur nicht noch jemanden ansehen, der dich nicht sieht und der dich nicht ansieht. Ihre ganze Geschichte kann ich an ihrem Gesicht und an ihrem Körper ablesen. Draußen, in der Dunkelheit, verwischte Lichter.

Die hässliche Frau hat ein Kind bei sich, ein lebloses Kind. Alles an dem Kind ist rot, die Hose ein anderes Rot als die Jacke, das verwaschene Rötlich der Mütze ungewaschen. Nimmt man der Kleinen die Mütze vom Kopf, rote Haare, wieder ein ganz anderes Rot, ein gerötetes Gesicht und - blaue Augen. Als der Zug vorn anspringt, wir haben uns ja noch keinen Millimeter fortbewegt, wird das Kind lebendig. Es will auf seinem Platz stehen, was es nicht darf, will leben und fragt immer: Zug? - Zug?

Ich schließe die Augen und öffne sie wieder, und der Zug gräbt sich vorwärts. Ich sehe das Kind, wie es auf ihr herum klettern darf, und ich sehe sie und weiß ganz unvermittelt, wie sehr sie auf das Kind gewartet hat. Komplikationen bei der Geburt ahne ich, und wie der Arzt sie davor gewarnt hatte. Auf einmal kann ich lesen, durch die Nähte der zu engen Jacke ist ein Teil ihrer Lebensgeschichte fest gesteppt. Sehe, dass die Jacke gewaschen werden müsste, dass ihr die Eltern, die Schule, aller Blicke nichts, aber auch gar nichts, für ihr Leben je versprachen. So dass sie sich selbst versprach, sie würde das Kind haben.

Das Weich der rötlich leuchtenden Haare steht flaumig und flauschig nach allen Seiten und ist bestimmt gewaschen. Das Kind erklettert die Mutter, bezwingt ihre Unform insoweit, als deren Augen anheben zu sprechen, dass der Mund sich öffnet. Ich schließe wieder die Augen. Fahre also immer in die fremde Stadt, um mich zu verlieben, grinse ich über mich selbst. Um dort fremd zu bleiben. Fremdsein ist ja die Voraussetzung fürs Verlieben überhaupt.

In einer Kurve stößt sich das Kind den Kopf. Der Leib der Mutter bekommt eine Form dort, wo sich der Kinderkopf zwischen Schulter und Hals hinlegt. Schließlich rutscht das Kind herunter, rollt sich auf seinem Platz zusammen und legt seinen Kopf an den Bauch der Mutter, oder in diesen, zwischen all die Falten, inmitten des Fleischs. Die Schönheit der hässlichen Frau, ich kann sie sehen, wie die viel zu kleinen, zwingenden Augen, die breite Nase, die Haare, die sie, wozu?, schon lange nicht mehr wäscht. Sie ist die schönste Frau der Welt, die allererste, die ich je erblickt. Keine habe ich vorher gesehen. Ich sehe die Schönheit der Hässlichen, ihre Einzigartigkeit, sehe alles, was ausblieb, sehe jene, die ihr ein Kind versprachen, einen Mann, mit dem sie es nur noch zeugen konnte, einerlei, wohin er hinterher geht, einen Arzt, der es einfach nur auf die Welt holen musste, egal wie.

Zu Hause angekommen, stecke ich den Stecker in die Steckdose. Bei einem Trödler habe ich für fünf Euro ein kleines Schifflein erstanden, irgendwann von fremder, jetzt vielleicht schon toter, Hand aus Holz, Garn und Stofffetzen gefertigt. Wellen, ebenfalls hölzern, blau angestrichen, toben starr. Kleine Lämpchen springen an, im und um das Schiff, und leuchten in die Dunkelheit.

Dirk Werner wurde 1961 in Gera geboren und ist Sozialtherapeut und Fotodesigner. Er lebt als Autor und Fotograf in Esslingen am Neckar. Hier und im nahe gelegenen Stuttgart leitet er Kurse, organisiert mit Kindern und Jugendlichen Foto-Ausstellungen und tritt selbst häufig als Autor wie Moderator auf. Außer in »neues deutschland« veröffentlicht er u.a. in der »jungen Welt« und im »Eulenspiegel«. Vorwiegend satirische und absurde Texte wird er am Neujahrsabend in Berlin präsentieren. Veranstaltungsort: cafè provinz/Treptow
Dirk Werner wurde 1961 in Gera geboren und ist Sozialtherapeut und Fotodesigner. Er lebt als Autor und Fotograf in Esslingen am Neckar. Hier und im nahe gelegenen Stuttgart leitet er Kurse, organisiert mit Kindern und Jugendlichen Foto-Ausstellungen und tritt selbst häufig als Autor wie Moderator auf. Außer in »neues deutschland« veröffentlicht er u.a. in der »jungen Welt« und im »Eulenspiegel«. Vorwiegend satirische und absurde Texte wird er am Neujahrsabend in Berlin präsentieren. Veranstaltungsort: cafè provinz/Treptow

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