nd-aktuell.de / 02.01.2012 / Kultur / Seite 4

Staunend

Anna Maria Mühe / Die Schauspielerin ist als Shooting Star des europäischen Films für die Berlinale nominiert

Hans-Dieter Schütt

Man kann einen Beruf haben und gilt doch als anderer Mensch. Anna Maria Mühe ist Schauspielerin. Der Satz klang oft, wenn er besonders selbstverständlich klingen sollte, besonders falsch. Die Öffentlichkeit hatte der jungen Frau eine andere Tätigkeit zugedacht, ein wenig lauernd, auf jeden Fall sehr neugierig. Anna Maria Mühe ist Tochter. Von Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann. Beide Schauspieler starben kurz hintereinander, beide gingen, in einem Stasi-Streit, so kann man es wohl sagen: unversöhnt aus der Welt. Anna Maria war vier, als die Mauer fiel, die Eltern sich trennten; Jahre pendelte sie mit Ulrich Mühe zwischen Berlin, Wien, Hamburg.

Das Spiel von Anna Maria Mühe - 1985 in Berlin geboren, privater Schauspielunterricht - ist schon lange mehr als ein Versprechen. Es sind die Augen. Es ist eine Intensität des Blickes, die Abwehr und Zuwendung auf jenen Punkt zusammenbringt, der Grenzen verwischt. Diese Augen blickten oft aus Filmen, die auf den ersten Blick eher Handwerk als Kunstwerk sind, renommierte Krimi-Serien wie »Tatort«, »Polizeiruf 110« oder »Der Kriminalist«. Taucht(e) die Mühe auf, Nebengestalten, Leidgeprüfte, Undurchsichtige, unschuldig Schuldige - es schien oft, der Film entschlösse sich zum Rhythmuswechsel, zu einer anderen Herzfrequenz, ungewiss, ob näher zum Leben oder zum Tode hin.

Das verblüffend Eindringliche wächst möglicherweise aus dem Kontrast zur noch immer jugendlichen Helle und einem Grundzug entschlossener Heiterkeit, den diese Künstlerin (mit dem Vatergesicht) ausstrahlt. Im Erstlingsfilm von Christian Schwochow dann das preisebringende Ereignis: »Novemberkind« erzählt von einer jungen Frau, die ihr Kind, in den Westen fliehend, in der DDR zurücklässt. Ihr Tod wird zur Legende eines Unfalls umgestrickt. Die Tochter wird nach der Wende suchen und suchen - lange Schatten legen sich auf aller Leben. Mühe spielt die junge Mutter und die Tochter. Ein faszinierender Balanceakt. Mühe staunt die Tragödie an, in der sie sich verlieren muss. Hoffnung trifft auf Klarsicht. Dies Duell, in einer einzigen Seele, endet unentschieden. Endet nie. Das ist es, was Größe schafft.