nd-aktuell.de / 07.01.2012 / Wissen / Seite 28

Scharf, klein und rot

Reinhard Renneberg, Hongkong
Zeichnung: Chow Ming
Zeichnung: Chow Ming

Am Jahresende 2011 ging ein Bild um die Welt: Eine Gruppe frierender junger Demonstranten kauert am Boden. Sie protestieren gegen die Räumung eines »Occupy the Wallstreet«-Zeltlagers an der University of California in Davis. Plötzlich erscheint ein Polizist in voller Kampfmontur. In aller Seelenruhe zückt er eine Spraydose, schreitet die Sitzreihe ab und sprüht den Wehrlosen ungerührt Pfefferspray direkt in die Augen. Der dabei verwendete Wirkstoff Capsaicin wird nicht aus Pfeffer, sondern aus Paprika gewonnen. Es ist ein Alkaloid, das bei Säugetieren den vom Verzehr von Paprika- oder Chilischoten bekannten Schärfereiz erzeugt.

Warum kombinierte die Natur rot und scharf? Die Farbe erzeugt Aufmerksamkeit, die Schärfe Abschreckung - für Säugetiere. Vögel z. B. »schmecken« wegen anderer Rezeptoren auf ihrer Zunge kein Capsaicin. Sie zerkauen die Samen auch nicht, sondern verbreiten sie - enzymatisch »vorbehandelt« - mit ihrem Kot weiter, zum Nutzen der Pflanze.

Der Schärfegrad ist abhängig vom Anteil des Capsaicins und wird in Scoville Units (SCU) gemessen. Die z. Z. schärfste Chili-Sorte Trinidad Scorpion Butch Taylor wird mit 1,4 Millionen SCU angegeben. Habaneros, die man mir neulich in der kubanischen Botschaft in Hongkong anbot, kommen »nur« auf ca. 300 000 SCU, und doch verspürte ich plötzlich Angstgefühle. Das oben erwähnte Pfefferspray hat 5,3 Millionen SCU!

Die Geschmacksempfindungen süß, sauer, salzig, bitter und umami (Biolumne vom 24. Dezember) werden durch Stoffe her᠆vorgerufen, die die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge »freundlich« reizen. Capsaicin hingegen spricht Rezeptoren für Hitze und Schmerz an. Übrigens: Die seit 1950 in Ungarn gezüchteten süßen Paprika enthalten fast kein Capsaicin mehr.

Die Ähnlichkeit der Empfindung von »heiß« und »scharf« (engl. beides »hot«) kommt dadurch, dass sich Capsaicin an das Eiweiß TRPV1 bindet, das auch durch Temperaturerhöhung aktiviert wird. Die »Erhitzung« durch Capsaicin ist also nur Schein. Die Täuschung funktioniert: Der Körper reagiert mit besserer Durchblutung, um Wärme abzuführen, daher auch die Hautrötung. Diese Wirkung des Capsaicins wird z. B. bei Wärmepflaster n ausgenutzt.

Capsaicine wirken gegen Bakterien und Pilze - in den Tropen sehr hilfreich. Sie lösen sich in Alkohol und Fett, aber nicht in Wasser. Deshalb Vorsicht beim Verarbeiten von Chilis. Nicht die Augen reiben! Und kein Wasser, es hat keinen Effekt. Fetthaltige Emulsionen wie Joghurt, Milch und Käse helfen. Auch (hochprozentige) alkoholische Getränke lindern die Schärfe, Capsaicin löst sich nämlich gut in Ethanol. Während meines Studiums in Moskau war Wodka mit eingelegtem Chili (»Perzovka«) fester Teil der russischen Grundausbildung.

Bei den Olympischen Spielen 2008 konnte man auch erfahren, dass Capsaicin zum Dopen taugt: Vier Springreiter wurden deshalb suspendiert.

Vor 1990 lautete eine politische Scherzfrage: »Was ist klein, rot und scharf?« An der Antwort-Geschwindigkeit kann man heute noch Ossi und Wessi unterscheiden ...