nd-aktuell.de / 14.01.2012 / Kommentare / Seite 1

Es ist ungerecht! Ist es?

André Brie
Der LINKE-Abgeordnete (61) in Mecklenburg-Vorpommern leitet gegenwärtig den Wahlkampf seiner Partei in Schleswig-Holstein.
Der LINKE-Abgeordnete (61) in Mecklenburg-Vorpommern leitet gegenwärtig den Wahlkampf seiner Partei in Schleswig-Holstein.

Schon vor fast zwei Jahrzehnten hat sich die damalige PDS einsam gegen die Geburtsfehler des Maastrichter Vertrages gewehrt: »Euro: so nicht!« hieß unsere Losung. Wir waren nicht gegen den Euro, sondern gegen den sozialfeindlichen Monetarismus, der ihm zugrunde gelegt wurde. Wir kritisierten den undemokratischen und intransparenten Charakter der Europäischen Zentralbank und das Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik. Die anderen Parteien, auch SPD und Grüne, peitschten die Fehlkonstruktion durch. Unsere damalige Kritik ist heute fast zum Gemeingut geworden. Doch wirksame Konsequenzen blieben aus.

Nun wird gefragt: Wo bleibt der massenhafte Widerstand der unmittelbar betroffenen Menschen in Deutschland, wo ihr zorniges Aufbegehren dagegen, dass die Krisenverursacher mit Abermilliarden aus öffentlichen Haushalten geschützt werden, während soziale Ausgrenzung und Spaltung die Existenz- und Teilhabemöglichkeiten von Millionen Menschen zerstört? Warum gibt es einen allgemeinen, aber passiv bleibenden Frust auf die Banken und Fonds als Krisenverursacher, aber kaum Vertrauensentzug für deren politische Verursacher? Warum schließlich sind die Umfragewerte für jene Partei, die früh- und rechtzeitig realistische, sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Alternativen anbot, so gesunken? Das ist ungerecht!

Unsinn. Zum einen gibt es in der Politik nur selten einen Automatismus zwischen Rechthaben und demoskopischer Akzeptanz. Politische und noch mehr kulturelle Vermittlungen sind weitaus komplizierter. Zum anderen haben unsere Fehler der vergangenen Monate zu den schlechten Umfragen beigetragen. Darüber sind wir uns inzwischen einig - nur nicht darüber, wer sie zu verantworten hat und wie wir zu größerem politischem Einfluss zurückkommen.

Festzustellen ist: In der »rot-grünen« und in der großen Koalition haben SPD und Grüne eine Politik gemacht, die sie heute populistisch und opportunistisch verleugnen. Wählerinnen und Wähler vergessen schnell - sogar, wer dieses Land einst in den Afghanistan-Krieg führte. Zudem wurden die sozialen Themen im öffentlichen Bewusstsein in den Hintergrund gedrückt, obwohl ihre Dramatik zunimmt. Schließlich: Wie der Aufschwung der Piraten, vor allem aber die Occupy-Bewegung und andere Proteste zeigen, bildet sich durchaus eine gesellschaftspolitische, emanzipatorische und kulturelle Alternativbewegung heraus. Sie wird von einer Kultur getragen, die der LINKEN eher fremd ist: selbstbestimmt, basisdemokratisch, hochmodern vernetzt, freiheitlich, individuell, bilder- und freudvoll. Wir dagegen lieben Papiere, Konzepte, Parlamentsreden, Talkshows. Das alles ist nicht unwichtig, aber um als andere Partei sinnlich wahrgenommen zu werden, müssten wir im Alltag der Menschen als eine politisch und kulturell widerständige, zuversichtliche, aktionsorientierte und -fähige Partei erlebbar sein. Das ist leichter gesagt als getan. Aber es zu erkennen und zu versuchen, es zu organisieren, wäre ein größerer Schritt als das nächste kluge Papier.