nd-aktuell.de / 17.01.2012 / Kultur / Seite 15

Pilgern, von der anderen Seite her

Thomas Glavinic war »Unterwegs im Namen des Herrn«

Regina Stötzel

Sechs Uhr früh ist eine Uhrzeit, die ich sonst nur von der anderen Seite her kenne.« In aller Herrgottsfrühe starten der Schriftsteller und Ich-Erzähler Thomas und sein Freund Ingo, Fotograf, von Wien zu einer Pilgerfahrt. Es hätte auch ebenso gut Lourdes sein können, aber die Reise dorthin wäre teurer und zeitaufwendiger gewesen. So geht es ins bosnische Medjugorje, »wo täglich die Muttergottes erscheint, an die ich leider nicht glaube«.

»Ich will sehen, welche Menschen Pilgerreisen unternehmen, und ich will erfahren, wie es auf einer solchen Reise zugeht«, schreibt Thomas. »Ich will Menschen in ihrem Glauben erleben, vielleicht auch, weil ich sie irgendwo tief in mir darum beneide.« Zu den Mitreisenden zählen die schöne alte Bäurin, die immer »Jööööh« sagt, wenn sie Zustimmung oder Begeisterung ausdrücken will, der alte Kappenmann, der Postmann, der Tennislehrer (der auch kein echter Pilger ist, aber einer werden will), Intschu-Tschuna, die intelligente Frau und der Amerikaner Jim, der zwar keineswegs »theologisch total auf zack« ist wie die Fundamentalistin, aber doch in einer Debatte klar zu stellen weiß: »It's Adam and Eve, not Adam and Steve!«

Gemessen an seiner Zielsetzung bleibe das Buch »deutlich zu oberflächlich«, bemängelte eine Rezensentin. »Der 39-Jährige gibt sich auch nicht nur ansatzweise Mühe, seine Mitpilger zu verstehen und bietet so auch dem Leser nur einen sehr kleinen Einblick in diese sehr eigene Welt.« Zu diesem Ergebnis muss kommen, wer von Autor Thomas Glavinic einen Selbsterfahrungstrip nach Art von Hape Kerkelings »Ich bin dann mal weg« erwartet. Glavinic aber lässt seinen Erzähler klarstellen: »Ich habe das Buch nicht besonders gemocht, und zwar wegen seiner glaubensbesoffenen Putzigkeit, die einem fröhlich aus jeder Seite entgegenschallt.« Selbst wenn »der kleine Hape« einmal frustriert sei, werde »wie durch ein Wunder einen halben Tag später wieder alles schön«.

Bei Glavinic wird nichts schön. Der Reiseleiter mit der »negativen Ausstrahlung« führt ein straffes Regiment auf seiner sechshundertfünfunddreißigsten Pilgerfahrt. Mit schrillen Pfiffen ruft er nach Pausen zur Weiterfahrt, seine praktischen Ratschläge drehen sich vor allem um das Preis-Leistungs-Verhältnis von öffentlichen Toiletten. »Und wenn ihr unseren Pilgerpass herzeigts, wo der Name vom Reisebüro draufsteht, kriegts ihr da zu jedem Essen einen Schnaps gratis.« Aber: »Den Bettlern nix geben!« Während der 150 Kilometer Fahrt durch Slowenien lässt er seine Schäfchen im Bus ununterbrochen beten, und auch ansonsten hat es sein Erbauungsprogramm in sich. Da berichten geläuterte Ex-Junkies von ihrem großen Glück, nur noch beten und arbeiten zu dürfen, und ein längst verstorbener freundlicher Pater wettert in einem Video gegen Abtreibung.

Der Pilgerort erweist sich als Konsumhölle, wo Figuren der Mutter Gottes in allen erdenklichen Größen und Materialien feil geboten werden. Fundamentalistenpilgerinnen nehmen nur Wasser und Brot zu sich und sind auch sonst für Späße nicht zu haben. Viel schlimmer noch: »Mir fällt auf, dass ich hier noch kein einziges Lachen gehört habe.« Selbst wenn sich Menschenströme aus der Kirche auf die Straße ergießen, registriert Thomas »das totale Fehlen jeglichen Lächelns«. Keiner spricht, keiner feiert. »Die Menschen gehen geduckt, als hätten sie eins übergezogen bekommen.«

Da Thomas auch Abstinenz und Hotels mit jugendherbergsmäßigen Vorschriften eher von der anderen Seite her kennt, überkommt ihn schnell ein ungutes Gefühl »als Ungläubiger im Wallfahrtsort, gezeichnet vom Exzess - der Teufel schläft nicht«. Und tatsächlich geht es mit ihm stetig bergab. Herzrasen und Panikattacken nebst fiebriger Angina bekämpft er wenig erfolgreich mit einem bunten Mix an Medikamenten, Bier und Schnaps. Derweil beschließt der robustere Ingo bereits die Flucht. »Ich muss weg. Ich halte das nicht mehr aus. Ich halte nichts hier aus. Das ist der schrecklichste Ort, an dem ich je war.«

Allerdings hält der Teufel (oder wer auch immer) für die beiden Wallfahrer eine Art Nachhölle bereit, welche die zweite Hälfte des Buches in Anspruch nimmt. Sie geraten in eine Welt von halbseidenen, aber im Gegensatz zu den Pilgern vor Leben strotzenden Gestalten, nicht wenige davon »Marke Ustascha-Eliteeinheit«, die ihr Anwesen mit Kampfpudeln schützen und mit Pistolen hantieren wie die Fundamentalistinnen mit Rosenkränzen. Zu Ehren der beiden Freunde wird eine Party veranstaltet, die im Schnaps- und Medikamentenvollrausch endet und bei der mit viel Glück nur eine Ziege zu Tode kommt.

Der von Midlife-Crisis und florierender Sinnlosigkeit in seinem Innern geplagte Erzähler, dem nicht einmal ein wahrhaftiger Höllenflug zurück nach Wien erspart bleibt, weiß nach der Reise immerhin, wo er keine Antworten auf die großen Fragen findet. Das Ganze kann man als »Geschichte des eigenen Scheitern« bezeichnen, wie es die erwähnte Rezensentin getan hat. Oder man kann einfach großen Spaß beim Lesen haben.

Thomas Glavinic: Unterwegs im Namen des Herrn. Carl Hanser Verlag. 208 S., geb., 17,80 €.