Inge Keller las...

...Bruno Frank

  • Lesedauer: 5 Min.
Inge Keller las...

Über dem langen Tisch hängt schief, rot ein kraftprotzender Balken. So verstörend war das Bühnenbild von Eberhard Keienburg nie, wenn eine Lesung Inge Kellers anstand. Ein Damoklesbalken, grell leuchtend. Schranke eines Gerichts, halb offen, halb sich senkend. Ein Requisit gegen jeden Versuch, sich die Welt in Balance zu denken. Wird hier etwas umgestoßen oder aufgerichtet? Fällt hier etwas oder hebt es sich? Um Geld wird es in der Erzählung »16 000 Francs« von Bruno Frank gehen. Geld: Lässt, mit diesem Balken, das Signet der Deutschen Bank grüßen? Die rote Wucht dominiert, stört - überm Kopf der Keller besteht die Welt auf ihrer so argen Schräglage.

Bruno Frank (1887 geboren, vor den Nazis geflohen, 1945 in den USA gestorben) schildert die Geschichte eines deutschen Offiziers, der im Ersten Weltkrieg bei einem im Feld getöteten Franzosen besagte große Summe findet, sie stiehlt und von nun an mit der großen Schuld seines Lebens ringt. Seine nächsten Jahre: Krise, republikanische Wirren, nazistischer Auftrieb, moralischer Niedergang und existenzielle Kämpfe derbster Art - im Publikum mitunter ironisches Raunen wegen akuter Assoziationsangebote, aus dieser Erzählung herüberdrängend in die reale gesellschaftliche Gegenwart.

In dies Klima ethischer Versumpfung hineingewoben das Schicksal des sich quälenden, gewissenswunden Offiziers und juristischen Staatsrates Raumer: eine Geschichte von der alles entscheidenden Institution - jenem Gerichtshof, der nach Immanuel Kant »im Inneren des Menschen aufgeschlagen« ist. Gern arbeitet die Welt dem Verdrängen zu: Sachzwang, Notlage, Pflicht - wenn innen nicht ein freiwilliges Brennen für Schuld und Schmerz bleibt, ist jedes Leben ein verfehltes ...

Inge Keller las am Sonntag im Deutschen Theater Berlin. Bruno Frank? Vorsicht mit der Behauptung von einem vergessenen Autor. Dichter sind nicht vergessen, Dichter praktizieren nur die Profession des Wartens, das tun sie über ihren Tod hinaus. Wir beerdigen die Körper, und parallel dazu beginnen die mysteriösen Beziehungen zwischen Gedächtnis und Entdeckung und Warten und irgendwann neuerlichem Aufkommen des in Geduld harrenden Geistes. Jenes Publikum, das Inge Keller zuhörte, ist doch ein Argument gegen die Vermutung, Bruno Frank sei vergessen. Er ist - in einigen hundert Köpfen und also auch in Hunderten Empfangsräumen des Seelischen - ein Sonntagsgast gewesen, höchst berührend und lebendig. Das zählt. Wer dabei war, wird in Zukunft, wenn der Name Frank fällt und womöglich ein Schulterzucken einsetzt, sagen dürfen: Ich kenne ihn. Und schon ist jenes Grab, das des Autors Endlichkeit anzeigt, der Lüge überführt.

So geht das mit den Dichtern, es darf an Arthur Koestler erinnert werden: »Der Ehrgeiz eines Schriftstellers soll darin liegen, hundert zeitgenössische Leser gegen zehn Leser zehn Jahre später einzutauschen, und diese zehn nach 100 Jahren gegen einen.« Das ist keine zynisch garnierte Verzweiflung ob drückender Erfolglosigkeit, das ist diese souveräne Wartensarbeit des wahren Dichters, und es ist Widerstand gegen Bestsellerlisten, Verlagsschwerpunkte, Highlights, Tops, Großschriftsteller-Industrien.

Auch für diesen Gedankengang war Gelegenheit bei dieser Matinee, zu danken Inge Keller und Hans-Martin Rahner, dem langjährigen Stoff-Finder für die Vorleserin K., einem Dramaturgen des Deutschen Theaters aus dessen DDR-Glanzzeiten. Als die Klugheit und Belesenheit der Dramaturgen noch eine theaterformende Kraft war, die den Regisseuren nicht schlechthin zur Hand ging, sondern zum neugierigen Kopf.

Wenn die Keller liest, weiß das Wort, dass es auf dem sich verflüchtigenden Atem dieser Interpretin ein Nach-Leben hat. Es gibt bei dieser Schauspielerin, die auch eine Schausprecherin ist, für alle Worte ein Nach-Zittern oder ein Nach-Schauen oder ein Nach-Schweigen oder ein Nach-Fragen oder ein Nach-Lauschen. Sie hat Untertöne, wo ein Satz Oberwasser will. Sie ist so lange kühl, bis sie sicher sein kann, dass Sanftheit schlagende Wirkung hat. Und also wird sie, auf den Punkt genau, sanft. Wirkung aber exakt dort, wo die Erzählung es verlangt. Mag sein, dass ihr Bruno Frank besondere Schwierigkeiten auferlegte. Sie kann bei Thomas Mann, bei Stefan Zweig oder Kleist eine Ausschwingende sein, kann Bögen aus Sprache schlagen, wo Franks Sätze kurz auftreten, klack, klack; Knappheit bestimmt den Rhythmus. Sprache benutzt hier eine klar gezogene Straße, bildet keinen weiten Himmel.

Wo Keller sich verspricht, wiederholt sie das Wort, den Satz mit schönster Selbstverständlichkeit. Dies Detail erzählt die grandiose Handwerkerin. Die weiß, dass sie Rüstzeug bietet, nicht Kunst - Kunst entsteht in unserem hörenden Fühlen, in unserem sehenden Denken. Keller ist in ihrer höchst durchkomponierten Erscheinung eine intelligent Bescheidene. Sie weiß: Nie entscheidet ein Bühnen-Wesen über das, was es in uns, der Wertungsmacht im Zuschauerraum, in Bewegung setzt. Wo sie plötzlich Schwierigkeit mit der Lesekraft ihrer Augen hat, sagt sie: »Ja ja, das Alter ist drollig«. Keller-Erlebnisse sind Lektionen! Lehrstunden in gnadenvoller Souveränität, sich im Besitz der Kräfte, wo diese schwinden, nicht krampfhaft zu behaupten, sondern die Relativität der Dinge staunend, dankbar, arbeitend (!) zu feiern.

Und doch ist da immer auch ein toller Hauch großen Theaters, wenn diese Frau, in fühlsamer wie sezierender Tongebung und malerisch bemerkenswert, auf dieser Bühne sitzt, thront. Anderthalb Stunden Lesung, anderthalb Stunden Besatzungsmacht: Hier fand, hier findet es statt, mein Leben, das wahre Kunst-Leben auch all der anderen vom einstigen DT. Als deren Erbeklang diese bestechende Inge Keller wohl unbestritten gelten darf.

Hans-Dieter Schütt

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