Die kölsche Rebellion

Heinrich Bölls Reden und Schriften zu Literatur, Politik und Zeitgeschehen

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Murren begann früh. Man war aus dem gröbsten Elend raus, strebte längst mit Fleiß und Zuversicht ins Helle, und sie erzählten von Verwüstung, Tod, Trümmern und Hunger. Immer wieder diese Kriegs- und Heimkehrergeschichten, Bücher über die geschundenen, sprachlosen, verlorenen Seelen der grauen Nachkriegszeit, über Schwarzmarkt und Wohnungsnot, Ängste, Trostlosigkeit, Verzweiflung. Und plötzlich war es da, dieses Wort, das den Überdruss in ein einziges Wort packte: Trümmerliteratur. Es war »ein herablassendes Argument«, hat Heinrich Böll später in einem Gespräch gesagt, »das eigentlich aus der Ecke ›heile Welt‹ kam ... Das war damals eine sehr unerfreuliche Auseinandersetzung über die heile Welt und die unheile Welt, und mir fiel dann ein, daß also sehr große Werke der Weltliteratur eigentlich Trümmerliteratur sind.«

Böll wehrte sich. 1952 schrieb er einen Aufsatz, der sich vehement gegen den Vorwurf verwahrte, er wühle mit Vorliebe in den Finsternissen des Daseins, während man sich doch längst daraus erhoben habe. Der Text, eine seiner großen, programmatischen Äußerungen, eröffnet einen neuen, starken Band von beinahe tausend Seiten, der im Titel den unverrückbaren, nie aufgegebenen Standpunkt des Schriftstellers ausdrückt: »Widerstand ist ein Freiheitsrecht.«

Kiepenheuer & Witsch, sein Hausverlag, liefert mit dieser Sammlung so etwas wie ein Postskriptum zur 27-bändigen Kölner Ausgabe, die, mutig gegen die Geringschätzung und das Vergessen gesetzt, mit ihren 20 000 Seiten unübersehbar (wenngleich nur unzureichend gewürdigt) in den Regalen steht. Böll, zuletzt immer wieder totgesagt, war gestern. Sagen die, die es stets ganz genau wissen. Marcel Reich-Ranicki, tonangebend, meint, bleiben werde von diesem Werk nicht viel, allenfalls ein paar frühe Erzählungen, vielleicht einige Humoresken. Bölls Zeit, soll das heißen, ist unwiederbringlich dahin. Die sich von den Weissagungen der Auguren nicht aus der Fassung bringen lassen und sich den unvoreingenommenen Blick bewahrt haben, werden’s bezweifeln.

Immer wird es Leser geben, die den Erzähler, der ja gar nicht so bieder, so altmodisch und sprachlich so minderbemittelt war, wie ihm Kritiker heute unterstellen, die die Stimme dieses Mannes, seinen Umgang mit der Wirklichkeit nicht missen möchten. Die sich auch mit der Gepflogenheit, die Geschichte der Bundesrepublik schön fleckenfrei zu malen, nicht anfreunden und schon gar nicht abfinden wollen. Böll ist für Fragen, die der Oberfläche misstrauen, immer noch eine glänzende Adresse.

Der neue Band, zusammengestellt von René Böll und auf über dreihundert Seiten von Jochen Schubert umfassend kommentiert, versammelt Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte. Es ist eine Auswahl nur, ein bescheidener Teil der insgesamt 734 nachgewiesenen Essays, Aufsätze, Rezensionen, Glossen. Aber noch der Ausschnitt zeigt, was für ein empfindsamer, solidarischer und zugleich unbeugsamer Geist das war, was für eine Erscheinung: couragiert, mutig, böse, manchmal auch von ätzender Schärfe, den Dingen, die vor der Haustür passierten, irgendwo in Deutschland, irgendwo in der Welt, so nah, dass sie schmerzten und schnitten. Er hat den Schmerz nicht verschwiegen, den Protest nicht erstickt, die Wut und sein Mitleid nicht unterdrückt. Wo gibt es heute einen Schriftsteller in diesem Land, der mit ihm nur ein wenig konkurrieren könnte?

Undenkbar für Böll der Rückzug ins stille, abgeschirmte Leben, weit weg von den Zumutungen ringsum. Sein Schreibtisch in Langenbroich, in Irland und zuletzt in Kölns Hülchrather Straße war ein Zentrum der deutschen Nachkriegsliteratur. Und der Platz, an dem er erbittert gegen Gewalt, Unrecht, Betrug und Lüge kämpfte. Er hat es die »kölsche Rebellion« genannt.

Da ist ein Text aus dem Jahr 1953: »Was ist aktuell für uns?«, der Blick in die Medienlandschaft mit ihrem überbordenden Interesse für den ägyptischen Ex-König Faruk. Der Name tut eigentlich nichts zur Sache. In welche Zeitung, welches Blatt er auch immer blickt, überall Bilder und Berichte über Faruk. Derweil, sagt Böll, werden Kriege geführt, müssen Menschen fliehen, ist ein Drittel der Weltbevölkerung unterernährt, und selbst die größte Katastrophe bleibt kaum länger als eine Woche aktuell. »Zäh«, sagt er, »schlägt die andere, die Scheinaktualität wieder durch, sie wird sichtbar wie ein Wasserzeichen: Köpfe der Könige und Schauspielerinnen, die uns im Grunde gar nicht interessieren, uns auch nichts angehen und die auswechselbar sind wie die Köpfe eines Kasperletheaters«.

Dann, im Jahr darauf, berichtet Böll von einem französischen Dichter, der nach Deutschland kommt, ein Jude, dessen Eltern von den Nazis ermordet wurden, und »unsere Kinder wissen nicht, was vor zehn Jahren geschehen ist«. Sie kennen die Orte großer, weltberühmter Schlachten, aber Auschwitz kennen sie nicht. Damals war vielleicht noch die Hoffnung im Spiel, der publizistische Einsatz würde nicht einfach verpuffen.

Später, im Aufsatz »Einmischung erwünscht« von 1973, wird Böll wissen, welche Rolle ihm und all seinen Mitstreitern zugedacht ist. Auf der einen Seite »die Herren Realpolitiker«, auf der anderen die Intellektuellen mit ihren Mahnungen und Appellen, Leute wie er, die »nützlichen Idioten«. »Nützliche Idioten«? Nein, sagt Böll, sie sind etwas ganz anderes: »die geborenen Einmischer«.

Es blieb nicht beim Behaupten. Er verkörperte die Rolle wie kein anderer. »Einmischung«, schrieb er, »ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.« Sein Biograf Christian Linder nennt ihn einen »Einzelkämpfer von historischem Format«. Er übertrieb nicht.

An den hier versammelten Arbeiten kann man immer wieder sehen, welches Ethos dem Böllschen Schreiben zugrunde lag. Engagement nannte er die Voraussetzung seiner Arbeit, ihre Grundierung. Solidarisch mit allen Gefährdeten, den Schwachen, den Opfern von Verfolgung, Gewalt und Terror, zuständig für alles Unrecht der Welt und getrieben nur vom eigenen Gewissen, lebte er den Widerstand: als Erzähler, als Redner, als Essayist. Er stand auf gegen die Verdrängungen der Adenauer-Ära, gegen die Nazis, die wieder zu Amt und Würden kamen, gegen Notstandsgesetze und Radikalenerlass, gegen die Praktiken der »besseren Gesellschaft«, den eigenen Vorteil zu suchen, er beschwor in einer großen Rede die Gegenwärtigkeit Büchners, schrieb über Karl Marx, Solshenizyn, Ernst Jünger, Reiner Kunze oder die Lage der Schriftsteller, ermunterte Bürgerinitiativen, tschechoslowakische Demokraten, sowjetische Dissidenten.

Man kann das alles, wunderbar gebündelt und erläutert, jetzt wieder lesen. Es ist nicht nur eine Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, den Erregungen und Kämpfen von einst. So fern, so vergangen sind die Dinge nicht, von denen hier gesprochen wird: mit einer Leidenschaft, die den Texten Kraft und Frische erhält.

Heinrich Böll: Widerstand ist ein Freiheitsrecht ... Schriften, Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte, hg. von René Böll, komment. von Jochen Schubert, Kiepenheuer & Witsch, 984 S., geb., 29,99 €.

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