nd-aktuell.de / 03.02.2012 / Wissen / Seite 14

Hinein in die andere Welt

Für Kinder mit Asperger-Syndrom ist der Alltag ein Labyrinth - ein Wegweiser für Eltern

Martin Hatzius
Asperger-Autisten fällt es schwer, die Mimik und das Verhalten ihrer Mitmenschen richtig zu deuten. In der Schule führt das oft zu Missverständnissen und Mobbing. Ein Ratgeber der Psychologin Cynthia La Brie Norall unterstützt Eltern betroffener Kinder dabei, gangbare Wege durch deren konfliktreiches Leben zu finden.
Gefangen in den eigenen Vorstellungen
Gefangen in den eigenen Vorstellungen

Für die Eltern eines Kindes, das sich zwischenmenschlich untypisch verhält, ist die Suche nach den Gründen quälend. Nicht nur die scheelen Blicke, die man in der Öffentlichkeit erntet, sondern sogar die Fülle gut gemeinter Ratschläge nähren die Selbstzweifel: Was habe ich falsch gemacht?

Insofern kann die ärztliche Diagnose »Asperger« - so schockierend sie ist - auch erleichternd wirken. Zwar forschen Neurologen immer noch nach den genauen Ursachen dieser Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung, doch gelten nicht-organische Faktoren (wie falsche Erziehung oder psychische Belastungen) inzwischen als ausgeschlossen. Der Schock: Mein Kind leidet an einer »versteckten« autistischen Behinderung, die medizinisch nicht heilbar ist. Die Erleichterung: Nicht mein Versagen hat die Konflikte verschuldet - ich kann helfen.

Freilich, hier fangen neue Probleme an. Sie konkret zu lösen, ist der Ansatz der US-amerikanischen Psychologin Cynthia La Brie Norall. Deren mit der Kinderbuchautorin (und Mutter eines betroffenen Sohnes) Beth Wagner Brust verfasster Ratgeber »Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen« ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Ermutigend ist das Buch, weil es profunde Kenntnisse mit therapeutischer Praxis verbindet. Die Erfahrungen wiegen dabei sehr viel schwerer. Norall gründete vor Jahren eine Asperger-Kindern und -Jugendlichen vorbehaltene Einrichtung, den »Friend's Club«. Hier üben sie, professionell angeleitet, jene sozialen und kommunikativen Fähigkeiten ein, die sie nicht intuitiv erlernen können.

Woran erkennt man ein Kind, das an dem 1944 von Hans Asperger, einem österreichischen Kinderarzt, erstmals beschriebenen Syndrom leidet? Die meisten Betroffenen stehen ihren Altersgenossen intellektuell nicht nach. In der feinmotorischen und sozio-emotionalen Entwicklungen aber bleiben sie zurück. Weil sie »in ihrem Geist und in ihren Vorstellungen leben« (Norall), reagieren sie nicht adäquat auf ihre Umwelt.

Es fällt ihnen selten ein, Bekannte zu grüßen, auf Handlungsaufforderungen zu reagieren oder ihrem Gesprächspartner ins Gesicht zu sehen. Stattdessen reden sie monoton, aber lautstark, vor sich hin. Zu erzählen haben sie aufgrund ausgeprägter Spezialinteressen viel - wobei es kaum von Bedeutung ist, ob ihnen jemand zuhört. Ihre Art der Wissensaneignung entspricht keineswegs schulischen Anforderungen. In der Klasse hindern ihr ausgeprägter Perfektionismus und ihre Angst vor dem Falschmachen sie daran, Aufgaben zu übernehmen, bis hin zur totalen Verweigerung.

Weil es ihnen schwerfällt, Spott und Ironie zu erkennen, sind Asperger-Kinder »ideale Mobbing-Opfer«. Zusätzlich problematisch ist, dass sie aggressiv reagieren können, sobald ihre Gedankenwelt mit der Umwelt kollidiert. Unkontrollierbar werden solche Konflikte, da viele Betroffene nicht nur über eine mangelnde Körperwahrnehmung verfügen, sondern sich auch nicht vorstellen können, was ihr Gegenüber empfindet. Da diese Menschen extrem sensibel sind, kann schon eine laute Geräuschkulisse sie aus der Fassung bringen. Reizüberflutungen entladen sich oft auch in stereotypen Verhaltensweisen wie dem aufgeregten Wedeln der Arme oder - misslich für Eltern wie Erzieher - im kommentarlosen Davonlaufen. Um in der Schule Anerkennung zu erlangen, sind solche Mechanismen der »Selbstregulierung« so wenig förderlich wie das fehlende Verständnis für Bekleidungsmoden oder die Notwendigkeit aufwendiger Körperhygiene.

Durch ihr außergewöhnliches Verhalten geraten Asperger-Kinder schnell ins soziale Abseits, was ihre Neigung zur Depression verstärkt. Einzelgänger sind sie ohnehin, und sie wissen das. Dennoch, so Norall, habe sie die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen sich oft nichts sehnlicher wünschen als einen Freund.

In ihrem »Friend's Club« kommen Asperger-Kinder ausschließlich untereinander in Kontakt. Das Ziel der Arbeit aber besteht darin, dass die Kinder »sich in der wirklichen Welt zurechtfinden« - Exklusion zum Zwecke der Integration. Schade, dass im Buch nicht zu erfahren ist, ob es vergleichbare Einrichtungen auch hierzulande gibt. Immerhin sind im Anhang deutschsprachige Internetquellen genannt, die weiterhelfen.

Im Hauptteil zeigt die Autorin »85 Lösungen« spezieller Probleme auf, alphabetisch geordnet. So kann man gezielt nach Hilfestellungen suchen. Wer das Buch stattdessen im Ganzen liest, wird feststellen, dass sich grundsätzliche Lösungsansätze wiederholen und in verschiedenen Situationen zur Anwendung kommen.

Norall erklärt nachdrücklich, dass »klassische Erziehungsmaßnahmen« wirkungslos bleiben müssen, weil der vermeintliche »Ungehorsam« seine Ursache in der spezifischen Hirnstruktur dieser Kinder hat. Gefühlsbetonte Ansprachen erreichen sie ebenso wenig wie Strafen. Viel lohnenswerter als Kritik ist es daher, zuerst nach dem »Warum« einer bestimmten Verhaltensweise zu fragen. Ein Hoffnungsschimmer: Asperger-Kinder sind »geborene Regelbefolger«. Je rationaler man ihnen Routinen und erwartete Abläufe darstellt und je klarer man diese fixiert (am besten schriftlich), desto eher werden sie sich nach diesen Mustern richten.

Norall erklärt, was »soziale Lerngeschichten« sind. Sie stellt eine Reihe förderlicher Brett- und Rollenspiele vor. Sie verweist auf visuelle Hilfsmittel wie »Redestäbe« und »Gesprächsbäume«. Sie erläutert, wie das symbolische Einschließen eines Zwangsthemas in eine Schachtel einen Tobsuchtsanfall beenden kann. Sie beharrt darauf, den Kindern Ruhe- und Atempausen zu gewähren. Und sie ermutigt überbelastete Eltern dazu, die staatlichen Hilfen in Anspruch zu nehmen, die ihren Kindern und ihnen zustehen.

Noralls Buch lehrt, mit den Schwächen von Asperger-Kindern umzugehen. Zugleich ist es ein Appell, ihre Stärken zu erkennen und zu fördern. Etwas zu häufig weist die Autorin darauf hin, dass auch geniale Künstler und Wissenschaftler wie Mozart und Darwin, van Gogh und Einstein Asperger-Symptome aufgewiesen haben. Das mag Eltern Trost und Hoffnung spenden, allein: Allzu klar ist, dass weniger begabte Kinder, die nicht auf Verständnis und Unterstützung treffen, auch auf ganzer Linie scheitern können. Die dringlichste Eltern-Frage - »Wird mein Kind je selbstständig leben können?« - beantwortet Norall so nüchtern wie ehrlich: »Ja, vielleicht.«

Cynthia La Brie Norall, Beth Wagner Brust: Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen. Wie Sie Sozialverhalten und Kommunikation Ihres Kindes fördern. TRIAS 2012, 296 S., brosch., 24,99 €.