Sein Utopia ist Wahnsinn

Aribert Reimanns »Lear« in Hamburg

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Natürlich kann man sich Shakespeares »Lear« am besten als einen alten Mann vorstellen. Einen amtsmüden König, der es sich für den Rest seiner Tage mit ein paar Kumpanen gutgehen lassen will, während seine Töchter für ihn sorgen. Und der aus allen Wolken fällt, als eine von den Dreien bei der vorzeitigen Verteilung des Erbes kein Loblied auf ihren Vater anstimmt. Auch muss er sehr schnell bemerken, dass die übertriebenen Bekundungen von Vaterliebe durch ihre Schwestern reine Taktik waren, um ans Erbe und die Macht zu kommen.

Als Aribert Reimann und sein Librettist Claus H. Henneberg, auf Anregung von Dietrich Fischer Dieskau und im Auftrag der Staatsoper Hamburg in den siebziger Jahren darangingen, aus Shakespeares Stück eine Oper zu machen, wurde aus dem »King Lear« einfach »Lear«. Im Mittelpunkt steht damit ein Mensch, der für jeden sichtbar tief fällt und erst im Wahnsinn zu sich findet.

Regisseurin Karoline Gruber konzentriert sich in ihrer Inszenierung auf den Gedanken, dass dieser Lear nicht zwingend ein alter Mann sein muss. Mit dem dänischen Bariton-Mannsbild Bo Skovhus hat sie einen Sängerdarsteller für die Titelpartie, der kein bisschen altersschwach oder müde wirkt.

Dabei sind das (Dreh-)Bühnenbild von Roy Spahn, Karl-Heinz Stenz‘ sich klug ins Übermächtige eines Heidelabyrinths auswachsenden Videoeinblendungen mit zentralen Worten (von König-reich, über ICH bis NICHTS) und die eher heutigen Kostüme von Mechthild Seipel offen für Assoziationen bis in die Gegenwart. Dabei sind sie von einer Atmosphäre, die eine ausgefeilte, stets musikalisch beglaubigte Personenregie in ein beklemmendes Kammerspiel steigert: Im Falle Lears, wenn sich der Machtmensch nach seiner Abdankung nur noch von lauter Männern umgeben sieht, die ihm aufs Haar gleichen. Wenn er den Verlust seiner Kleidung wie den seiner Selbstständigkeit und seiner Würde erlebt. Wenn all das in einem stummen Schrei mündet und, ganz am Ende, ein Utopia des Wahnsinns ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert.

Für die äußere Handlung genügen eine sparsame Büro-Ausstattung für den Ort der Abdankung, ein paar Versatzstücke britischer Kaminbehaglichkeit für die arg gebeutelte Familie Gloster und ein proper spießiges Einfamilienhaus mit großem Messingnamensschild. Ein trister Gang mit Neonleuchten weist im Grunde immer auf den Weg ins Nichts hin. Wenn das dann für Lear und seine paar treuen Begleiter im Unglück zur stürmisch bedrohlichen Realität wird, wächst der entsprechende Schriftzug NICHTS ins Übermächtige.

Die Machtgier der Töchter Goneril (Katja Pieweck) und Regan (Hellen Kwon), die sadistische Blendung des alten Grafen Gloster (Lauri Vasar) und dann der scheiternde Rettungsversuch Cordelias (besonders eindrucksvoll: Ha Young Lee) werden nicht als historische Gruselstory, sondern als exemplarische Bedrohung des Zivilisatorischen erzählt.

Dass das Publikum vor der Pause und am Ende ein paar Sekunden brauchte, um aus der Wirkung des vorgeführten Grauens herauszukommen, lag auch am exzellenten musikalischen Niveau des Abends. Das Protagonisten-Ensemble schien durchweg von der Ausstrahlung und Überzeugungskraft beflügelt, mit der sich Bo Skovhus als Sängerpersönlichkeit von Rang einbrachte. Neben den Töchtern gilt das besonders für Andrew Watts, der als Edgar für seine Existenz als irrer Tom mühelos in eine kraftvolle Counterlage wechselte.

Neben dem Chor gilt das auch für die Intendantin Simone Young, die am Pult die Philharmoniker Hamburg mit bemerkenswerter Einfühlung und Präzision jedes Detail hörbar machte und sich hochsouverän im Einklang mit der Bühne befand. Und im Einklang mit den Intentionen des Komponisten. Das darf man getrost vermerken, weil es der glücklich wirkende Aribert Reimann in Hamburg selbst gesagt hat.

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