So grausam wie schön

»Der Trinker« - am Berliner Gorki Theater von Sebastian Hartmann inszeniert

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Mensch tritt vor den Vorhang, der die meiste Zeit zugezogen bleiben wird. Er hat eine Gitarre dabei. Es dauert, er quält sich, er zelebriert sich in seiner Unbeholfenheit. Schließlich hören wir doch, was er mit tiefer kratziger Stimme nicht sagen, nur singen kann: »An manchen Tagen sieht die Wahrheit ...« Pause. Ja, wie sieht sie denn nun aus? Es klingt, als ob eine Schallplatte zu langsam abgespielt würde, aber irgendwann ist es doch heraus. Ein fast nur gemurmeltes: Überlasst doch die Dinge einmal sich selbst! Lasst sie einmal in Ruhe. Nun ja, nach singendem Sozialarbeiter klingt das nicht, was Steve Binetti hier macht. Und seine Musik, die Bassgriffe und die rauchige Stimme - sie geben einen Rhythmus vor, der mehr bedeutet als bloße Begleitung: seinen stolpernden Herzschlag.

Denn auch die Krankheit ist nicht jedermanns Zugriff freigegeben, es gibt auch eine Autonomie inmitten der Selbstzerstörung. Nicht jedem ist zu helfen, mancher flüchtet auch vor dem obszönen Zugriff sich an ihrer Gutheit berauschender Helfer in die selbstzerstörerische Sucht. Die ist Isolation, gewiss, aber auch ein Ort, wo die Außenwelt nicht mehr hinlangt. Ein Schutzraum für Untergeher? Frieden? Ja, aber ein tödlicher. Es werden grausame zweieinhalb Stunden, bitterernst und übermütig clownesk zugleich. Maßlos wie der Rausch, der noch nicht weiß, dass er längst in der Sucht gefangen ist.

Der trunksüchtige Georges Simenon hat das Problem einmal so formuliert: »Ich glaube, jeder, der nicht unbedingt Schriftsteller werden muss, der sich vorstellen kann, auch etwas anderes zu tun, sollte in der Tat etwas anderes tun. Die Schriftstellerei ist kein Beruf, sondern die Berufung zum Unglück.« Von Tolstoi gibt es das Wort, ein Schriftsteller müsse immer zwei Leute umfassen, den Schriftsteller und den Kritiker. Alkohol ist eines der Instrumente, den Kritiker in sich stumm zu machen. Wer kann schon etwas hervorbringen, wenn er immer die überlaute Stimme des Kritikers im Ohr hat?

Fallada, der am Ende im Delirium lebte, ist tatsächlich die Personifizierung des Alkoholismus. Eine Angstvision. Wer rutschte nicht schon alles in die Sucht: große, starke, intelligente Persönlichkeiten - von Hemingway bis Faulkner, von Poe bis O´Neill und Steinbeck, von Joseph Roth und Franz Fühmann bis Uwe Johnson. Jack London hat die zunehmende Selbstzerstörung seines Ich in »König Alkohol« protokolliert: ein ständiger Wettlauf zwischen Rausch und Produktivität. Und keine Hoffnung mehr, da je herauszukommen.

Sebastian Hartmann liegt alle Romantisierung des Alkohols fern, ebenso wie seine Dämonisierung. Das prägt den Stil dieser Inszenierung. Im Interview beschreibt er, dass er als Kind in seiner Familie Erfahrungen damit machen musste, wie der Alkohol Menschen verändert. An die Harmlosigkeit dieses Gifts kann niemand glauben, der einmal erlebte, wie sich nahe Menschen plötzlich in etwas Fremdes und Abstoßendes verwandeln. Und dennoch: ohne den Wein und das dionysische Prinzip, den Rausch, der Horizonte eröffnet und dabei den, der sie erblickt, in große Gefahr bringt, fehlte unserer abendländischen Kultur ein Bewegungsprinzip. Gewiss hat Ernst Jünger recht, wenn er schreibt, die Droge bedürfe eines rituellen Rahmens, wenn sie - trotz aller Gefährlichkeit - eine kulturelle Funktion besitzen soll.

Hartmann, fern jeden Moralisierens, ist als Regisseur von Antonin Artauds Idee eines Theaters der Grausamkeit geprägt, er beschwört eine »Gegenpest zur herrschenden Pest«. Das schließt jede fade aufklärerische Pose aus. Er ist selbst als Regisseur nicht nur ein Extremist, sondern auch rauschhaft und exzessiv. So auch hier in Falladas »Der Trinker« am Gorki Theater in Co-Produktion mit dem Central Theater Leipzig. Die Inszenierung ist auch darum aufschlussreich, weil Hartmann als Intendant in Leipzig nicht zuletzt an einer kulturkonservativen Politik der Stadt gescheitert ist, die Kunst für etwas Repräsentatives hält. Nun sucht er ein neues Theater - und Armin Petras verlässt zufällig das Gorki Theater und geht als Intendant nach Stuttgart.

Repräsentativ ist es nicht, was wir hier sehen: aber hinreißend konsequent als Anti-Rausch inszeniert. Hartmanns alte Schwäche, sein Hang zum formlosen Gigantomanismus, ist hier jederzeit klug, die Subversion gegen sich selbst wendend, zurückgebunden. Dafür hat er auch zwei herausragende Schauspieler, Samuel Finzi und Andreas Leupold und jenen auf seiner Gitarre philosophierenden Musiker, die hier die Zerstörung des Erwin Sommer alias Hans Fallada alias Rudolf Ditzen zelebrieren. Ein grausames Spiel mit Masken, eine Vivisektion des eigenen gespaltenen Ich. Auf dem Vorhang, der mitunter von einer Windmaschine bis in die ersten Reihen des Publikums geweht wird, malen sich mittels Videoprojektion lauter Delirien (Bühne: Tilo Baumgärtel). Ein Schiff, das mit prallen Segeln abtaucht.

Der Rausch ist Entgrenzung: jenes Übermaß, das zuletzt immer zerstört. Hartmann findet Bilder, die das Publikum provozieren. Er ist immer auch einer vom Jahrmarkt, ohne Scheu vor dem derben Effekt. Da sehen wir eine Spei-Orgie, bei der Erbrochenes minutenlang aus Schläuchen hervorbricht: erst gelb, dann grün, schließlich rot. Finzi, ohnehin ein Virtuose des stummen Spiels, der wie kaum ein anderer mit minimalen Gesten ein Maximum an Ausdruckskraft erzielt, gelingt hier etwas Neues. Dieser überaus kluge Schauspieler, der vor zwanzig Jahren aus Bulgarien, ohne ein Wort deutsch zu können, nach Berlin kam, hat sich eine distanzierte Scheu vor dem Sprechen bewahrt. Nun spielt er auch mit dieser Scheu, aber auf neue Art: gewaltsam ausbrechend in Regionen, wohin die Sprache nie ganz reicht: Schmerz, Ekel, Aggression. Das ist großartig, das zieht selbst da in Bann, wo es abstößt.

Hartmann verdoppelt die Figur Sommers: Sucht ist immer auch Spaltungsbewusstsein, Selbstüberredung wider besseres Wissen, Schönreden des offenkundig Hässlichen. Andreas Leupold kann das so mit Finzi zusammen spielen, dass wir Teil haben am großartigen und doch so erbärmlichen Untergangstaumel des Schriftstellers Hans Fallada, der selbst noch sein Versinken in Schmutz und Selbstauflösung in einen großen Text zu verwandeln vermag.

Ich denke an Georg Trakl, der sich im Herbst 1914, die unerträglichen Bilder der Schlacht von Grodek im Kopf, mit einer Überdosis Kokain umbrachte und ein Jahr zuvor notierte: »Ich habe in der letzten Zeit ein Meer von Wein verschlungen, Schnaps und Bier. Nüchtern.« Ja, am Ende ist er ganz nüchtern, allein in seinem »kahlen Raum«, den er mit Milch getüncht sah. Eine weiße Kammer des Todes. So bejaht auch Hans Fallada am Ende des Romans den todbringenden Rausch. Ein auf archaisch-gewaltsame Weise sinnlicher und auf minutiöse Weise noch im Detail kluger Abend - so schockierend wie schön.

Nächste Vorstellung: 7. 2.

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