Das jährliche Gipfeltreffen zwischen Indien und Europäischer Union hat Tradition. Bereits zum zwölften Mal kommen beide Seiten in der indischen Hauptstadt zusammen, um über Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zu beraten. Schwerpunkt des heutigen Treffens soll ein bilaterales Freihandelsabkommen sein, über das schon seit 2007 verhandelt wird.
»Wir befinden uns im fortgeschrittenen Stadium der Verhandlungen und hoffen, diese bald abschließen zu können«, sagt Indiens Handelsminister Anand Sharma. Beide Seiten hätten sich in den vergangenen Monaten angenähert. Es gebe nur noch »wenige Lücken« zu schließen. Allerdings ist es nach Angaben aus indischen Regierungskreisen unwahrscheinlich, dass die Verträge schon auf diesem Gipfel unterzeichnet werden.
EU-Vertreter in Delhi nannten »Mitte des Jahres« als möglichen Zeitpunkt für den Abschluss der Gespräche. Beide Seiten erhoffen sich vom heutigen Treffen jedoch den »entscheidenden politischen Schub« für das Abkommen, mit dem der bilaterale Handel von derzeit 70 Milliarden auf über 100 Milliarden Euro im Jahr gesteigert werden soll.
Ursprünglich sollte es bereits 2011 soweit sein. Doch auf indischer Seite gab es Widerstand gegen eine zu starke Öffnung des heimischen Marktes für Importe aus der EU und einen zu großen Einfluss ausländischer Investoren auf die heimische Wirtschaft.
Einer der umstrittenen Bereiche ist die Automobilindustrie. Geht es nach dem Willen Indiens, sollen auch in Zukunft Einfuhrzölle für Pkw verlangt werden können. Derzeit wird für Autos aus der EU ein Zoll von 60 Prozent erhoben, der mit dem Abkommen auf 30 Prozent sinken könnte. Die Regierung will mit der hohen Abgabe die Autohersteller dazu bewegen, ihre Fahrzeuge für den indischen Markt im Land zu produzieren.
Gleichzeitig wird von der EU verlangt, den Zoll für Autos aus Indien von derzeit 6,5 Prozent auf null herabzusetzen. Davon würden Hersteller wie Hyundai und Suzuki profitieren, die in ihren indischen Werken Kleinwagen für den europäischen Markt produzieren - im vergangenen Jahr immerhin rund 250 000 Stück. Umgekehrt gingen nur 5000 Autos aus der EU nach Indien. Der deutsche Automobilverband VDA beklagt daher seit Monaten die »ungerechtfertigte Begünstigung des Produktionsstandorts Indien«. In Delhi hingegen pocht man auf Sonderrechte als Entwicklungsland.
Ein weiterer Knackpunkt ist die von der EU geforderte Öffnung des Einzelhandels. Unternehmen wie die deutsche Metro-Gruppe dürfen zwar bereits investieren, allerdings nur als Juniorpartner eines indischen Unternehmens. Sollte diese Regelung kippen, würden die Konzerne im ganzen Land eigene Märkte eröffnen und dadurch nach Ansicht von Kritikern Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährden. »Leidtragende sind dann vor allem Straßenhändler, die wegen geringer Bildung und Ressourcen kaum andere Einkommensmöglichkeiten haben«, befürchtet Armin Paasch vom katholischen Entwicklungshilfswerk Misereor. Kleineren Läden würde es wohl ebenfalls an den Kragen gehen.
Auch die von Brüssel geforderte Liberalisierung des indischen Agrarmarktes stößt auf Kritik. Würden die Zölle abgeschafft, könnten »direkt oder indirekt subventionierte EU-Exporte die Erzeugerpreise und Einkommen für indische Kleinbauern senken und ihr Recht auf Nahrung ernsthaft bedrohen«, meint Agrarexpertin Christine Chemnitz von der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung.
Indiens Kommunisten beklagen einen »totalen Mangel« an Transparenz. Zwar verspreche die Regierung, indische Interessen zu schützen. Doch niemand wisse, wie das umgesetzt werden solle, erklärte die KPI (Marxistisch). Das Parlament wie auch Vertreter der betroffenen Wirtschaftsbereiche seien nicht über den Stand der Verhandlungen informiert. Das Freihandelsabkommen dürfe daher beim Gipfel keinesfalls auf den Weg gebracht werden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/218033.strassenhaendler-in-gefahr.html