Der Riese mit der Rose

Die Schatzkiste ist eine bundesweite Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung

  • Alexander Richter
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Caritas-Frauen von der Schatzkiste in Oberhausen: Sandra Arslan und Daniela Kiepen
Die Caritas-Frauen von der Schatzkiste in Oberhausen: Sandra Arslan und Daniela Kiepen

Oh Gott, war ich nervös!« Der junge Mann, der sich derart outet, ist ein Riese, fast zwei Meter groß. Thomas (33) ist ein Kerl von einem Mann, der sich da leicht hilflos umblickt: »Wo ist sie?« Freundin Nadine (27) wirkt in seiner Nähe mit ihren 1,52 Metern winzig. Äußerlich zumindest. Denn die kleine Person weiß genau, was sie will: »Diesen Mann da; die anderen, die ich so kennengelernt habe, waren alle ein bisschen doof.«

Die beiden Turteltäubchen, beide sind geistig behindert, hatten sich für ihr erstes Rendezvous an einer schönen Adresse verabredet - im Café »Jederman« am Osterfelder Markt. In diesem Café im traditionsreichen Arbeiterstadtteil von Oberhausen haben Menschen mit Behinderungen aller Art eine sinnvolle Arbeit gefunden. Dort also stand vor ein paar Wochen Thomas in der Tür, hatte eine rote Rose in der Hand und suchte seine Herzdame. Die kannte er bisher nur vom Foto und hatte nur am Telefon mit ihr gesprochen. Nadine sah ihn, »und sofort hat es gefunkt«, erinnert sie sich, »die Rose und wie er da so stand, das war total nett.«

Dass die beiden sich fanden, haben sie dem »Projekt Schatzkiste« zu verdanken, einer Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung, die sich - in unterschiedlichen Trägerschaften - in vielen deutschen Regionen zum Ziel gesetzt hat, Bekanntschaften, Freundschaften und Liebschaften zu fördern. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Für Thomas und Nadine war die Schatzkiste in Oberhausen, die erste innerhalb der Caritas im Ruhrgebiet, der ersehnte Volltreffer. Sie wird von zwei jungen Caritas-Frauen, Daniela Kiepen und Sandra Arslan, mit viel Herzblut begleitet und geführt.

Denn Fragen wie: Wer ist der richtige Freund (die richtige Freundin), Lebensbegleiter, Sexualpartner? Und wie finde ich den oder die? In der Disco? Über eine Zeitungsanzeige? Beim Sport? Schwierig. Im heutigen Elektronik-Zeitalter, in dem Google, Facebook und Co. unser Leben (mit-)bestimmen wollen, sind Antworten vielleicht noch schwieriger zu finden. Das Internet fördert bekanntlich nicht wirklich die Kommunikation in zwischenmenschlicher Runde. 100 Freunde in einem sozialen Netzwerk sind eben nicht dasselbe wie ein Mensch zum Anfassen, Kuscheln, Reden, Lieben - auch wenn die »Generation Facebook« das meist nicht wahrhaben will.

Für Menschen mit Behinderung kommen weitere Kontakt-Handicaps hinzu: Da ist oftmals die fehlende Beweglichkeit hinderlich, aber auch, dass man sich im immer gleichen Umfeld aufhält. Auch ist Sexualität bei Behinderten in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabuthema. Gut zu wissen, dass es da die Schatzkisten gibt, die sich um so etwas wie »Beziehungskisten« für Menschen mit Behinderungen kümmern. Generell bieten die rund 50 Schatzkisten in Deutschland - sie sind alle regional organisiert - behinderten Menschen die faire Chance, einen Partner zu finden, ohne dabei abgezockt zu werden.

Bernd Zemella, 1. Vorsitzender der Hamburger Gründungs-Schatzkiste: »Viele herkömmliche Agenturen ziehen einem nur das Geld aus der Tasche, und man wird am Ende meist doch allein gelassen, mit der schmerzlichen Erfahrung, dass man eben nicht dazugehört zu den Schönen und Erfolgreichen, und dass behinderte Menschen immer noch ausgegrenzt werden.« Zemellas Schatzkiste hat in den über zehn Jahren ihres Bestehens viele Freundschaften gestiftet, Menschen zueinander gebracht, Liebende zum Standesamt und/oder zum Traualtar geführt.

Wie funktioniert diese etwas andere Partnervermittlung? Interessenten müssen sich »outen«, in Oberhausen beispielsweise bei den beiden Schatzkisten-Frauen vorbeischauen und ihre persönlichen Daten und Wünsche offenlegen. Die Daten kommen dann inklusive Foto in eine Kartei, die so etwas wie das Herzstück jeder Schatzkiste ist. Denn die Profile der einzelnen Singles können die beiden Partner-Vermittlerinnen dann mit anderen Profilen vergleichen - und hoffen, dass da was passt. Daniela Kiepen: »Als wir die beiden voneinander in Kenntnis gesetzt haben, war ich mir schon ziemlich sicher, dass bei Thomas und Nadine was laufen kann.« Sie hat recht behalten.

Jetzt, nach den ersten aufregenden Wochen der jungen Liebe, schwärmen die beiden: »Es ist so schön.« Sie telefonieren viel (»Wir haben beide die Aldi-Flat, denn so eine Stunde mit Quasseln ist schnell rum«) und treffen sich regelmäßig am Wochenende. Er arbeitet werktags in einer Behindertenwerkstatt in Oberhausen in der Küche, sie in Dinslaken in einer Behinderteneinrichtung in der Verpackung. Das Erste, was sie für ein Mehr an Miteinander gemacht haben, war, die ÖPNV-Fahrpläne zu studieren, da sind sie jetzt fit: »Wann fährt ein Zug, wann ein Bus?« Da beide Elternpaare eingebunden sind, werden Thomas und Nadine auch schon mal mit dem Auto gebracht. »Das ist Klasse, da sparen wir viel Zeit«, freuen sie sich und sagen Dankeschön mit einem selbstgebackenen Kuchen. Sandra Arslan ist sich sicher: »Das hält bei den beiden, das ist die perfekte Geschichte. Wir freuen uns richtig mit.«

Der erste gemeinsame Urlaub ist schon geplant - es soll in die Hansestadt Bremen gehen. Die Tour wollen sie weitgehend allein organisieren, sie gehen sehr selbstbewusst mit ihrer Behinderung um. Daniela Kiepen, die Pädagogin, meint: »Behindert sein, muss ja nicht heißen, unselbstständig zu sein.« Eine Beobachtung, die für immer mehr vor allem junge Behinderte gilt: Sie wollen zunehmend über sich selbst bestimmen und ihr Leben in die eigene Hand nehmen.

Wie Thomas und Nadine. Sie genießen das Leben miteinander und unternehmen viel: Mal geht's ins Kino nach Mülheim, mal in die integrative Disco in Oberhausen, mal zum Schwimmen ins Rhein-Ruhr-Bad in Duisburg, mal zum Spaziergang an den Rhein bei Dinslaken. Auch das gemeinsame Kochen (»Putenmedaillons mit Bacon und Beilagen z.B.«) macht ihnen Spaß, wobei Nadine offen zugibt: »Beim Kochen hat Thomas mir was voraus, aber schließlich ist die Küche ja auch sein Job.«

Insgesamt hat die Schatzkiste in Oberhausen nach gut einem Jahr rund 80 »Klienten« in ihrer Datei - vier Paare haben sich gefunden, bei zweien war es Liebe auf den ersten Blick. Neben Thomas und Nadine hat's auch bei Hermann (68) aus Oberhausen und Brigitte (58) aus Bottrop »rumms« gemacht. »Die Beiden sind so richtig verliebt«, sagt Daniela und lacht: »Der Hermann bedankt sich einmal in der Woche bei mir für sein neues Leben.«

Generelle Erfahrungen in Oberhausen: Erstens haben sich deutlich mehr Männer als Frauen bislang registrieren lassen, und zweitens haben es Menschen mit körperlichen Handicaps schwerer als andere Behinderte. Sandra Arslan: »Wir vermitteln nicht nur, wir arbeiten auch sozialpädagogisch.« Was heißt das? »Wir versuchen, Leuten ihre Vorurteile zu nehmen, wenn sie meinen: ›Wer soll mich schon nehmen, ich bin doch nicht toll?‹« Integrative Veranstaltungen wie Szenetreffs oder Diskotheken seien eine gute Möglichkeit, damit behinderte und nicht-behinderte Menschen zwanglos miteinander ins Gespräch kommen können.

Etwa im Zentrum Altenberg in Oberhausen, wo wir Marcel treffen. Er ist auf der Suche. Auf der Suche nach Nähe, Miteinander, Freundschaft, vielleicht Liebe. Der körperbehinderte junge Mann hat bescheidene Wünsche: »Meine Freundin sollte ein fröhlicher Mensch sein und auf mich eingehen können.«

Alle, die sich bei der Schatzkiste registrieren lassen, bleiben in der Regel solange in der Kartei, bis es »gefunkt« oder sich eine Freundschaft entwickelt hat. Oder bis sie selbst entscheiden: Das bringt mir nichts, ich will wieder raus. Das Angebot ist kostenlos, und alle Daten sind vor Einblicken Dritter geschützt. Tipp von Thomas und Nadine: »Nur Mut, und versucht Euer Glück! Wir jedenfalls haben unseren jeweiligen Schatz gefunden - in der Schatzkiste.«

Was derzeit noch kaum bis gar nicht funktioniert, ist das »vernetzte Vermitteln«, was bedeutet: Das Zusammenführen von Heidi in München mit Ibrahim in Bremen klappt nur in Ausnahmefällen, auch wenn die beiden auf dem Papier »wie füreinander gemacht sind«. Sandra Kiepen: »Die Schatzkisten in Deutschland sind dezentral organisiert und vermitteln in der Regel auf die jeweilige Region begrenzt. Im Zeitalter moderner elektronischer Kommunikation muss da noch nachgebessert werden.« Immerhin: Die Vernetzung untereinander ist in Arbeit.

www.schatzkiste-partnervermittlung.eu

Thomas und Nadine (o.): Nur Mut, versucht euer Glück!
Thomas und Nadine (o.): Nur Mut, versucht euer Glück!
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