nd-aktuell.de / 23.02.2012 / Kultur / Seite 16

Der Riss, die Liebe

Benjamin Lebert versetzt die Welt in Winterschlaf und weiß den Leser zu erwärmen

Irmtraud Gutschke

Er ist 1982 geboren, in gutem Hause, veröffentlichte mit siebzehn den Roman »Crazy«, der eine Auflage von über einer Million erreichte. Seither noch weitere Bücher. Doch er ist sich nicht einmal sicher, ob er bereits ein »Schriftsteller« sei. Benjamin Lebert schaut uns vom Umschlag seines neuen Buches mit weit geöffneten Augen und mit Stirnfalten an. So hager wirkt er, dass man glauben könnte, er würde die Essstörungen kennen, wegen der seine Hauptgestalt Robert sich in Therapie begeben muss.

Aber was es auch immer sei: Im Hintergrund des Romans ist ein Gefühl des Versehrtseins. Und das lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass Benjamin Lebert selbst mit einer halbseitigen Lähmung kämpft. Dieses Versehrtsein reicht als Drohung bis in die Seele. Dort trifft es allerdings auf Bewusstheit, wird es nicht als Zustand der Dinge hingenommen, wie es viele andere Autoren tun, die sich auch noch darin sonnen. Kritiker sehen dann in der Zerrissenheit des künstlerischen Ichs die Zerrissenheit der Welt gespiegelt.

Das ist bei Benjamin Lebert anders. Wenn er Probleme hat, legt er sie niemandem zur Last. Am eigenen Schopfe muss er sich aus dem Sumpf ziehen; da vermittelt sich dem Leser mitunter sogar etwas Therapeutisches. Aber, wie gesagt, das ist nur der Hintergrund. Im Mittelpunkt des Buches steht eine fiktive Geschichte.

Zwei Männer, Robert und Kudowski, haben sich aus einer Therapieeinrichtung davongemacht. Beide mögen sie Annina, das Mädchen von der Tankstelle. Zu ihr sind sie in einen schwarzen Suzuki Samurai gestiegen. Sie fahren durch ein Land, das in Winterstarre liegt. Ja, buchstäblich. Nicht nur den Insassen von »Waldesruh« ist nämlich eine »Schlafmedikation« verordnet, allen Bürgern ist es geboten, Winterschlaf zu halten, was nicht nur positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben, sondern auch den Energie- und Rohstoffverbrauch drastisch senken würde. (Ein müder Leser mag das für einen Moment sogar für vorteilhaft halten. Aber wer hält die Maschinerie der Profitmaximierung an?) Die drei nun haben sich gegen die Starre entschieden, haben die Schlaftabletten weggeworfen. Sie fahren über leere Autobahnen, durch schlafende Städte und finden nur noch ganz wenige Orte vor, wo sie sich aufwärmen können. Dort aber sind Gleichgesinnte, denen ihre Lebendigkeit auch wichtiger ist als staatliche Verordnung.

Gleichgesinnte, darüber hat Benjamin Lebert, beim Schreiben nachgedacht, die findest du immer, auch wenn du glaubst, alles um dich herum sei eingefroren. »Jeder Ort, selbst wenn er einem vielleicht Angst macht, hat, so schien mir, eine kleine Öffnung, einen Riss, durch den jederzeit Liebe hineinsickern kann« - ein Satz schon vom Beginn des Buches, eine Überzeugung, die Benjamin Lebert beim Schreiben in sich verfestigen will.

Trost. Weil wir nötig haben, getröstet zu werden. Weil wir Anforderungen nicht zu erfüllen vermögen, für andere ungenügend bleiben müssen. Weil niemand uns die Geborgenheit geben kann, die wir eigentlich brauchen. Weil unsere Sehnsüchte zu groß sind für die Realität. Benjamin Lebert macht sich schutzlos durch seine Sprache. Er flüchtet sich in keine Pose. Grundaufrichtig ist er in seiner Verletzlichkeit. Die Kinderseele lebt in ihm; vielleicht bleibt sie ihm sein ganzes Leben. Das ist der Zauber, von dem sich mancher mit dem Wort »naiv« auch abwenden kann. Künstlerisch bedeutet das, alles Gekünstelte abzulehnen, konsequent mit eigener Stimme zu sprechen, das zu ergründen, was man wirklich meint.

Robert, Kudowski und Annina erleben diverse Abenteuer, gestehen einander, zögerlich, ihre Traurigkeiten. Wollen sich miteinander an »Momente der Geborgenheit« erinnern, die jeder von ihnen schon einmal erlebte (da meint man im Hintergrund die Stimme des Therapeuten zu hören). Öffnen sich für Wundersames. »Plötzlich kam es Robert so vor, als strichen weiche, scheeige Finger über sein Herz - ihn überkam eine große Freude.« Der Autor muss damit rechnen, dass Leser sich abwenden könnten, weil sie nicht auf diese Weise getröstet sein möchten. Aber warum soll man sich nicht rühren lassen?

Die Reise endet, nach einem Besuch beim sterbenden Vater, mit einem Gottesdienst in einer Münchner Kirche, die während des Winters nicht geschlossen hat. »Er hatte ein Gefühl, als hätte er sehr lange allein in einer harten, erbarmungslosen Wildnis gelebt und kehrte nun für eine Weile in die Wärme und Obhut menschlicher Gesellschaft zurück.«. Roman einer Gesundung. Einer vorläufigen, mag der Autor einwenden. Mit einem »segensreichen Aufhorchen« will er schon glücklich sein.

Benjamin Lebert: Im Winter dein Herz. Roman. Hoffmann und Campe. 159 S., geb., 18,99 €.