Auf der Straße

Zwei Survivallehrer wollten von Deutschlands Obdachlosen lernen

  • Lesedauer: 8 Min.
Körpertemperatur nach einer Nacht unter freiem Himme
Körpertemperatur nach einer Nacht unter freiem Himme

Neumarkt in der Oberpfalz, 23. Januar 2012, 9 Uhr. Hinter uns fällt die Tür unserer Wohnung ins Schloss. Von nun an leben wir auf der Straße. Vor der Idee für unser neuestes Projekt hatten wir von Anfang an ebenso viel Respekt, wie es uns fasziniert hat. Wir wollen für vierzehn Tage als Landstreicher auf den Straßen Deutschlands leben, ausgerüstet mit zwei Kameras, der Kleidung, die wir am Leibe tragen und je einem zweiten Paar Socken. Sonst nichts. Kein Geld, kein Schlafsack, keine Isomatte. Die Wettervorhersage für die nächsten Tage verspricht bis zu minus 22°C. Als Wildnislehrer und Survivalexperten haben wir schon viele Nächte unter freiem Himmel verbracht. Bislang waren wir aber immer in der Natur unterwegs gewesen, und dort kannten wir uns inzwischen aus. Wie aber kann man mitten in der Zivilisation leben, wenn man weder Geld noch ein Zuhause hat? Das wollen wir von Obdachlosen und Landstreichern lernen, jenen Menschen, für die das Leben auf Deutschlands Straßen der Alltag ist.

Bereits die erste Nacht ist frappierend. Wir sind nach Nürnberg getrampt, um unser Landstreicherglück in der großen Stadt zu probieren. Jetzt ist es dunkel geworden, und wir schlagen unter der Überdachung eines Einkaufszentrums unser Lager auf. Plastikmülltüten dienen uns als Matratzen, und unsere Jacken sind der einzige Schutz vor der Kälte. Schnee fällt in dichten Schleiern aus dem kalten Nachthimmel und bedeckt langsam die Straße. In den knapp sechs Stunden, die wir zwischen Wärmemeditation und Halbschlaf ausharren, kommen etwa 40 Passanten und mindestens vier Polizeistreifen vorbei. Keiner schaut nach, wie es uns geht. Keiner spricht uns an. Von ein paar abfälligen Kommentaren einmal abgesehen. Um fünf Uhr morgens sind wir frustriert, müde und stark ausgekühlt. Unsere Körpertemperatur beträgt noch 33°C, eine Temperatur, die für einen Ungeübten bereits lebensgefährlich wäre. Enttäuscht über die fehlende Hilfsbereitschaft unserer Freunde und Helfer wollen wir eine Stellungnahme der Polizei. Man versichert uns, dass auf jeden Fall sofort alles an Hilfsmaßnamen unternommen würde, von der sofortigen Überprüfung des Gesundheitszustandes bis hin zur Überführung der Betroffenen in ein Krankenhaus oder eine Notunterkunft. Schade, wenn derart gute Vorsätze auf dem Weg in die Praxis verloren gehen.

In Frankfurt jedenfalls kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis. Hier schlafen wir zwar nicht selbst im Freien und suchen uns stattdessen Unterschlupf in nicht überwachten Automatenvorräumen von Bankfilialen oder Parkhäusern. Auf dem Weg dorthin finden wir aber mehrfach Obdachlose, die wir wecken und in ihre Schlafsäcke legen, weil sie selbst zu betrunken dazu waren. Andere Passanten gingen zuvor tatenlos vorbei. Vielleicht aus Angst vor einer aggressiven Reaktion, vielleicht weil das Bild hier inzwischen zu normal geworden ist. Die Angst können wir ihnen jedenfalls nehmen, denn bei der Kälte schaffen Obdachlose es nicht einmal mehr, den Klettverschluss ihrer Schlafsäcke zu öffnen, geschweige denn, aggressiv zu werden.

Wir machen allerdings auch gänzlich andere Erfahrungen in Sachen Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Bereits am ersten Tag sind all unsere Ängste in Bezug auf unseren täglichen Nahrungsbedarf verflogen. Die Fülle an Möglichkeiten, an Essen zu kommen, ist schier unermesslich. Prall gefüllte Supermarktcontainer bieten uns Lebensmittel in bester Qualität, die nur knapp über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus sind. Mehr als zweimal nutzen wir diese Nahrungsquelle allerdings nicht. Nicht, weil wir uns davor ekeln würden, sondern weil es noch wesentlich bequemere Möglichkeiten gibt.

»Wir reisen ohne Geld durch Deutschland und leben wie Obdachlose. Haben Sie vielleicht Lebensmittel, die Sie nicht mehr verkaufen und die Sie uns geben können?« Diese Frage, zusammen mit einem freundlichen Lächeln beim Asia-Imbiss, Bäcker, Gemüsehändler oder in einer Dönerbude reichen aus, um mit einem erstklassigen Menü versorgt zu werden. Soziale und kirchliche Einrichtungen verteilen umsonst oder für wenige Cent ein tägliches Frühstück, Mittag- oder Abendessen. Mit solch einem Festmahl kann zum Teil kein Hotel mithalten. All-You-Can-Eat, Thai-Curry-Suppe, Hähnchenschenkel mit Kartoffelbrei, frische, warme Brötchen und vieles mehr. Kaum ist man satt, kommt eine freundliche Dame und bietet einem eine Tüte an, damit man noch ordentlich mitnehmen kann. »Nehmt lieber etwas mehr, es ist so schade, wenn wir es wegschmeißen müssen!«

Damit haben wir nicht gerechnet. Wo ist unser Kampf ums Überleben, unser Street-Survival, auf das wir uns eingestellt haben? Die Enttäuschung weicht bald der Begeisterung. Wir spüren das erste Mal in unserem Leben die Freiheit, die ein Landstreicher fest im Herzen verankert trägt. Schon lange haben wir uns nicht mehr so frei, leicht und zufrieden gefühlt.

Doch das Leben auf der Straße hat zwei Seiten, die wir bei unserer Reise überdeutlich kennenlernen dürfen. So frei wie das Leben für diejenigen ist, die sich freiwillig entschieden haben, ihr trautes Heim hinter sich zu lassen, so schmerzhaft ist es für die, die gegen ihren Willen zu Obdachlosen wurden. Systemversagen, Schicksalsschläge, Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Spielsucht oder Gefängnisaufenthalte führen dazu, dass die Menschen langsam oder schlagartig aus der Gesellschaft herausfallen. Auch für sie ist es nicht schwer, ihre körperlichen Grundbedürfnisse zu erfüllen, denn unser Gesellschaftssystem ist so ausgelegt, dass man selbst dann noch in ihm überlebt, wenn man pausenlos unter Alkohol- und Drogeneinfluss steht. Doch auf der psychischen und seelischen Ebene sind sie zumeist so stark verletzt, dass sie außer der Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Sinnleere, die in ihnen stecken, fast nichts mehr wahrnehmen können. Scham und Angst halten sie davon ab, Hilfe anzunehmen. Verzweiflung, angestaute Wut und tiefer seelischer Schmerz führen zur Flucht in die Parallelwelt der Drogen und des permanenten Rauschs. Im Laufe unserer Reise unterhalten wir uns sehr intensiv mit den unterschiedlichsten Menschen, die auf der Straße leben. Darunter sind viele, die sich selbst verletzen, ihre Arme mit Messern aufritzen oder mit Zigaretten verbrennen.

Bei den Gesprächen stellen wir fest, dass es sich dabei immer um sehr sensible Menschen handelt. Mehrfach erzählen sie uns, wie sehr sie unter dem Schmerz leiden, den die Menschheit unserer Erde zufügt. »Wir sind das einzige Tier auf diesem Planeten, das durch seine Rücksichtslosigkeit alles kaputt macht!« Wenn der Schmerz im geritzten Arm zu groß wird, blendet der Körper ihn aus und nimmt dabei den seelischen Schmerz mit.

Das Aufeinanderprallen von Extremen zieht sich wie ein roter Faden durch unsere gesamte Tour. Besonders auffällig ist es bei den Notunterkünften für Obdachlose, die wir immer wieder besuchen. In Nürnberg verbringen wir eine Nacht in der Unterkunft der Heilsarmee. Als wir unser Zimmer betreten, glauben wir unseren Augen nicht. Wir hatten einen verdreckten Schlafsaal erwartet, mit klapprigen Betten und stickiger, von Alkohol- und Schweiß geschwängerter Luft. Stattdessen stehen wir jetzt in einem Doppelzimmer mit eigenem Bad, einer Badewanne, einladend gemachten Betten und sogar einem Fernseher. Solch einen Standard kennen wir weder aus Jugendherbergen, noch aus vielen Hotels, die wir auf unseren Reisen in aller Welt kennengelernt haben.

Drei Tage später stoßen wir in Frankfurt auf einen krassen Gegenpol. Wir fragen nach einem Schlafplatz im Containerlager am Ostpark. Über diese Unterkunft haben wir bereits einiges gehört und sind neugierig darauf, uns selbst ein Bild zu machen. Leider werden wir zunächst enttäuscht. Alle Zimmer sind bereits belegt. Als wir gerade unverrichteter Dinge abziehen wollen, treffen wir auf einen Dauerbewohner, der uns auf ein Gespräch in seinen Container einlädt. Zusammen mit seiner Frau hatte er versucht, nach Australien auszuwandern, war dort aber gescheitert und musste ohne finanzielle Mittel zurückkehren. Die einzige Möglichkeit, ein Dach über dem Kopf zu bekommen, war dieser Container gewesen, in dem wir jetzt sitzen. Sechs Quadratmeter ist er groß. Die Einrichtung besteht lediglich aus einem kleinen Schrank und einem 90 Zentimeter breiten Bett, das sich beide teilen müssen.

Die Frau erzählt uns, dass sie an Multipler Sklerose leidet und kaum in der Lage ist, die zwei Stufen zu bewältigen, um in den Container zu gelangen. Die Toilette befindet sich am anderen Ende des Hofes. Da MS immer auch mit einer akuten Blasenschwäche einhergeht, muss sie nachts Windeln tragen, weil sie es niemals rechtzeitig über den Hof schaffen würde. Am schlimmsten aber sei das Zusammenleben innerhalb des Containerparks. »Diebstähle unter den Bewohnern sind hier ebenso an der Tagesordnung wie Schlägereien und Messerstechereien! Ich traue mich nicht mehr auf den Hof, wenn ich kein Messer dabei habe«, erzählt uns der Mann. »Die Polizei kommt nur noch mit einem Großaufgebot oder gar nicht. Anders ist es zu gefährlich!«

Nach Frankfurt führt uns unsere Reise weiter nach Köln, dann nach Stuttgart und schließlich zum Bodensee. Wir lernen Straßenkinder, Drogendealer, Prostituierte, Totalaussteiger, Hausbesetzer, Flaschensammler, Straßenmusiker und sogar einige der wenigen obdachlosen Frauen kennen. Von allen hören wir faszinierende und bewegende Geschichten. Viele sind tragisch, einige auch hoffnungsvoll. Oftmals haben wir auch viel gemeinsam gelacht. Auch wenn es nicht so viel an Survivalskills zu lernen gab wie wir erst dachten, so haben wir doch eine Menge für unser Leben gelernt. Auch die Angst vor dem beruflichen Scheitern ist dem Mut gewichen, unserer wahren Berufung zu folgen. Denn wir wissen jetzt, dass das Leben auf der Straße ein echtes Abenteuer sein kann, wenn man sich darauf einlässt. Wenn alle Stricke reißen und wir mittellos sind, warten auf uns in jeder Stadt freundliche, hilfsbereite Menschen, die einem jederzeit einen Schlafplatz und ein gutes Gespräch anbieten. Sei es nun unter der Brücke, in der Wärmestube oder in der Parkgarage.

Nachts in der U-Bahn in Frankfurt am Main
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