Bundeswehr flieht aus Talokan

Deutsches Camp in Nordafghanistan wegen Unruhen geräumt / Weitere Todesopfer

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit der Verbrennung von Koran-Ausgaben entzündete die US-Armee in Afghanistan eine Lunte, die in dem Land eine neue Explosion der Gewalt auslöste. Auch der Bundeswehr wird der Boden mittlerweile zu heiß.

Zwar sollte das Camp Talokan im Norden Afghanistans im nächsten Monat ohnehin dichtgemacht werden. Dennoch hat der Entschluss der Bundeswehr, die Basis bereits jetzt zu verlassen, etwas von einer überstürzten Flucht an sich. Als die gewalttätigen Proteste gegen die Koranverbrennung durch US-Truppen am Freitag den vierten Tag in Folge andauerten, verließen die deutschen Soldaten mit kompletter Mannschaft das Lager. Die etwa 50 Uniformierten brachten sich mitsamt Waffen, Munition und fahrbarem Gerät in Sicherheit. Den Befehl zum Abzug in das 70 Kilometer entfernte Feldlager Kundus hatte der Kommandeur der Nordregion, General Markus Kneip, erteilt, der ein Übergreifen der Unruhen auf den mitten in der 200 000-Einwohner-Stadt Talokan gelegenen Stützpunkt befürchtete.

Angesichts von mehreren Hundert erzürnten Demonstranten, die sich vor dem Camp versammelten, zog die Truppe den sofortigen Rückzug vor. Eine bewaffnete Reaktion auf die Attacken mit Brandsätzen und Handgranaten, bei denen zwei Bundeswehrsoldaten und vier afghanische Wachleute verletzt wurden, hätte die Lage zweifellos unberechenbar eskalieren lassen.

Ob die Menge sich durch die verbliebenen Wachen der afghanischen Armee von einer Erstürmung des Lagers und des dort verbliebenen Materials abhalten lassen wird, war am Freitag indes mehr als fraglich. Das zeigte auch der Angriff von Gewalttätern auf ein ungarisch geführtes Feldlager in der nordafghanischen Provinz Baghlan - ein Bereich, der gleichfalls in die Verantwortungszone der Bundeswehr fällt. Bei der Abwehr durch afghanische Sicherheitskräfte kam einer der Angreifer ums Leben. Elf Menschen wurden bei der Konfrontation in der Provinzhauptstadt Pul-i-Chumri verletzt, darunter vier Polizisten und vier Soldaten. Wie es hieß, hatten sich über 1000 Demonstranten vor dem ungarischen Wiederaufbauteam geschart. Etlichen gelang es, hinter die Stacheldraht-Absperrung des Feldlagers vorzustoßen.

Von der Empörungswelle ist auch der Westen Afghanistans erfasst, wo in der Stadt Herat drei Demonstranten und ein Soldat bei Ausschreitungen ums Leben kamen. Dort war das Ziel gewaltsamer Attacken das örtliche US-Konsulat. Insgesamt gab es am Freitag neun Tote.

Mit welchem Ernst die US-Regierung den neuerlichen skandalösen Vorfall durch ihre Besatzer am Hindukusch betrachtet, hatte Präsident Barack Obama deutlich gemacht, der am Donnerstag (Ortszeit) in Washington öffentlich sein »tiefes Bedauern« geäußert hatte. In einem Schreiben an Afghanistans Präsident Hamid Karsai hatte er versichert, die Koran-Ausgaben seien »versehentlich« verbrannt worden und man werde die »erforderlichen Schritte« unternehmen, um einen Wiederholungsfall zu verhindern sowie die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Beschwichtigungsgeste, die allerdings die aufgebrachten Muslime kaum erreichen dürfte.

Wird doch bereits der geringste Anlass zum Auslöser von Gewaltexzessen, mit denen viele Afghanen dem Unmut über Besatzung, Demütigung und Missachtung von Menschenrechten Luft machen. Vor allem die Taliban nutzen die von den ausländischen Militärs immer wieder gelieferten Gelegenheiten, sich als Verteidiger afghanisch-muslimischer Kultur zu gerieren. Auch diesmal riefen sie die Bevölkerung auf, Ausländer zu töten, um die Schändung des Korans zu rächen.

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