Verführt

Shame von Steve McQueen

  • Lesedauer: 5 Min.

Frostblau das seidene Betttuch. Es bedeckt einen männlichen Körper von den Füßen bis zur Hand, die unterhalb des nackten Nabels liegt. Der Faltenwurf der kühlen Seide wirkt edel, so, als habe sie ein Renaissance-Maler drapiert. Man ahnt die Lendengegend unter der Decke und was der Mann getan haben könnte. Oder doch nicht: Ist der Mann, dem die Kamera sich interessiert nähert, tot? Nach einer Weile: ein Lidschlag. Und wenn die Kamera behutsam zurückfährt und der Mann auf dem Lager den Blick in seinem aseptisch wirkenden Apartment langsam umherschweifen lässt, blaue Augen, leer, dann weiß man, was er selbst von sich weiß: Er ist kalt, vielmehr: Er ist tot. Unter der Dusche ein Wüten mit sich, gegen sich selbst, ein verzweifelter Akt - die nackte Verzweiflung, die er immer ist und sein wird, auch wenn er zuverlässig die Frauen reihenweise verführt. Nackt in der noblen und lässigen Kleidung eines gutbezahlten Angestellten eines gutgehenden Büros. Nackt im Designer-Jogginganzug, wenn er in der nächtlichen New York City seiner Last, dem in ihm brodelnden Horror, davonzuhetzen versucht.

Seine Last, diejenige, die der Zuschauer zu sehen bekommt: Zwanghafter Sex, ohne Lust, ohne Erlösung. Der erfolgreiche Manager, Mitte Dreißig, bestes Aussehen, perfekte Manieren, hat auf seinem Bürocomputer Pornoseiten aller Art. Dass er, Brandon, sie selbst geladen hat, traut ihm niemand zu. Wenn er seine Arbeit kurz unterbricht, dann nicht nur zum Kaffeekochen: In der Toilette tut er, was man Selbstbefriedigung nennt. Aber es befriedigt ihn nicht. Befriedigung, Friede - er kann ihn nicht finden. Er lädt sich Prostituierte nach Hause ein, und beim Abendbrot mit Bier und Fastfood klappt er mechanisch den Laptop auf und ist wie immer verbunden mit der Sex-Hotline. Echte Bindung ist ihm unmöglich, vier Wochen, sagt er zu einer Kollegin, die gern mit ihm was anfangen möchte, dauerte seine längste Beziehung.

Er versucht, sich aus dem Käfig seiner Getriebenheit zu befreien. Seine gesammelten Pornohefte wirft er weg, die Porno-Videos, den Laptop, alles, alles in den Müll. Aber als er eines Tages mit der bezaubernden Marianne im Hotelbett deren Begehren teilen will, muss er erschüttert feststellen: Mit ihr, die ihm sympathisch ist, die er wirklich mag, geht es nicht.

Gefühl und Sex sind zwei Dinge, die bei ihm nicht eins werden können. Er verabscheut sich. Er ist und bleibt einsam wie der letzte Mensch der Welt. Er lässt sich bedienen auf dem Männerstrich, lässt sich halbtot schlagen - nichts, das ihn aus der Gefangenschaft in seinem Körper erlösen könnte. In einer selbstzerstörerischen Orgie mit zwei Prostituierten zeigt er sein wahres Gesicht: das eines unsäglich Leidenden. So hohlwangig, so irräugig war Entsetzen und Schmerz unter Folter nie. Am Ende wird er im Regen stehen, als könnte das Wasser ihn reinigen, und, zu Boden gegangen, liegt er wie ein schutzsuchendes Fötusknäuel. - Michael Fassbender. Der Deutsch-Ire erhielt in Venedig den Darstellerpreis. Für den Oscar wurde der Schauspieler, der schon mit seiner Tour de force in »Hunger« auf sich aufmerksam machte, nicht vorgesehen - mit Sex haben's die greisen Academy-Mitglieder nicht so, meint der Regisseur.

Der Brite McQueen, der auch das Buch schrieb (gemeinsam mit Abi Morgan, Drehbuchautorin von »The Iron Lady«), ist ein Botschafter. Keinesfalls Voyeur. Er will einem »verschämt totgeschwiegenen Thema« »auf den Zahn fühlen«: der zunehmenden Sexualisierung der Gesellschaft als einem Ausdruck vermeintlicher Freiheit in der westlichen Konsumgesellschaft, in der die Allgegenwart von »Sex sells« abstumpft und die ständige Verfügbarkeit auf jedermann abfärbt.

McQueens formale Mittel: kaum Dialoge, und wenn, dann scharf pointiert, intensive Musik - Klaviertakte von Bach etwa, drohende Streicher, schwebende Geigen -, die oft mehrere Szenen lang ganz alleiniger Erzähler bleibt. Glenn Goulds Spiel der »Goldberg-Variationen« beispielsweise kon-trastiert mit seiner Zartheit die Härte und Dunkelheit der Straßen von Manhattan, durch die Brandon rennt. Klar und streng komponiert sind die Bilder, die etwas im Kino Seltenes schaffen: Man erfährt mehr, als man sieht. Mit absoluter Sicherheit und in einem dem Erzählfluss perfekt angepassten Rhythmus hält die Kamera die Distanzen ein, die es braucht, um die Übersicht zu behalten oder um nah zu sein. Und gegen den seelischen Schmutz, der sich auch in Brandons Umgebung findet, setzt Steve McQueen (Turner-Preisträger, documenta-Teilnehmer - und nicht zu verwechseln mit dem US-amerikanischen Schauspieler gleichen Namens) nahezu sterile Räume. Die Wohnung Brandons ist minimalistisch eingerichtet - kahle weiße Wände, glänzendes Parkett, hohe, breite Fensterscheiben, die in ihrer Kälte und Glätte die scheinbare Emotionslosigkeit spiegeln, in der Brandon seine Sexspielroutine abspult. Eisige Glaswände zwischen den Arbeitsplätzen im Büro, in dem nie echte Kommunikation stattfindet und kurze Mitteilungen per Skype-Verbindung das Familienleben ersetzen, Fensterscheibenspiegelungen in Hotels, in der U-Bahn. Hier flirtet Brandon mit einer jungen Frau am Anfang des Films und in der letzten Szene. Nur Blicke von Weitem. Anfangs ist er der Jäger, am Ende derjenige, dem nur Melancholie bleibt.

In der Schwebe wird gehalten, warum Brandon ein Sich-selbst-Entfremdeter ist. Dass die Vorgeschichte in der Kindheit gründet - eine vielleicht etwas küchenpsychologische Konstruktion -, wird aus der Beziehung Brandons zu seiner Schwester Sissy deutbar. Sie, eine exaltierte, lebenshungrige und -ängstliche Frau, sucht eines Tages bei ihm Unterschlupf. Sie ist eine gute, aber erfolglose Sängerin. Die Narben an ihrem Unterarm sprechen von vielen Selbstmordversuchen. McQueen schenkt ihr, dieser Verletzlichen, die eine einzige anrührende Szene in dem ansonsten eisigen, sezierenden Blick auf die in eine böse Welt gefallenen Engel: Sissy singt die von Frank Sinatra zu Tode geschmalzte Melodie »New York, New York« wie ein gehauchtes inniges Gebet, fünf Minuten lang oder länger, und die Kamera behält sie die ganze Zeit in einer einzigen Einstellung. Carey Mulligan spielt diese Frau brillant, in jeder Szene. Sissy weckt in ihrem Bruder, was er so fest verschlossen hat: echtes Gefühl. Und vielleicht wird sie ihn durch ihre Hilfsbedürftigkeit retten.

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