nd-aktuell.de / 29.03.2012 / Kultur / Seite 17

Leseprobe

Wahn und Kalkül

Seit 1990 ist die Geschichte des »Holocaust« stärker in das allgemeine Bewusstsein der Deutschen getreten. Das hat sich auch in der Gestaltung öffentlicher Räume in Städten ausgedrückt. Nirgend stärker als in Berlin, wo sich die Zentralen der Macht und des Terrors befanden ...

Beträchtlich sind auch die Fortschritte der Geschichtsforschung, an der inzwischen die dritte Generation von Spezialisten beteiligt ist. Sie wurden zu einem Teil dadurch ermöglicht, dass seit etwa 1990 bis dahin unzugängliche Bestände von Archiven vor allem in Osteuropa genutzt werden können und sich die Geschichte des Judenmordes auf den heutigen Territorien baltischer Staaten, Weißrusslands, Russlands und der Ukraine eingehender erforschen ließ. Auch in Deutschland wurden Hindernisse überwunden, die manchen Recherchen von Wissenschaftlern bisher Grenzen setzten ...

In den Untersuchungen der Experten steht das Was und das Wie, das Wo und das Wer, also die Frage nach Tätern und Tatbeteiligten im Vordergrund. So viele Einzelheiten dabei zutage gefördert werden, die ein differenziertes und damit auch historisch gerechtes Bild und Urteil ermöglichen, ihnen steht neuerdings eine pauschale Betrachtungsweise verstärkt entgegen, die den »Holocaust« schlicht - auch jeden Widerstand und alle Solidarität ignorierend - »den Deutschen« zuschreibt. Diese Geschichtsdeutung, die alle Katzen nicht nur grau, sondern schwarz sein lässt, bedient das Vernebelungsinteresse derer, die an der menschenfeindlichen Politik des Naziregimes im Ganzen wie im Besonderen an ihrer judenfeindlichen Ausrichtung einen eigenen Anteil hatten. Ihn festzustellen, trifft 70 und mehr Jahre nach den Ereignissen nicht mehr lebende Personen, wohl aber fortexistierende soziale Klassen, Schichten und Eliten.

Aus dem Vorwort von Kurt Pätzold zu seinem Buch »Wahn und Kalkül. Der Antisemitismus mit dem Hakenkreuz« (PapyRossa, 246 S., br., 15,90 €).