nd-aktuell.de / 11.04.2012 / Kultur / Seite 14

»Nun fürchte ich wieder um mich«

Zum Tode des Lyrikers Heinz Kahlau

Hans-Dieter Schütt

In der Lyrikreihe der DDR, dem »Poesiealbum« (die jetzt im Märkischen Verlag Wilhelmshorst ihre so verdienstvolle Wiederbelebung erfuhr), in dieser einst monatlich erscheinenden Referenz an Dichter gehörte Heinz Kahlau die Heftnummer 21. In den ausgewählten Gedichten damals ist von Menschen die Rede, die sich mit träumerischem Bewusstsein aus lärmender Welt retten. Von Leuten, die Morgenfrühe, frische Butter, Zigarette, »gähnen, strecken, vor mich hindenken« für ein »wichtiges Erlebnis« nehmen, um taggewappnet zu sein. Von Zeitgenossen geht das Wort, die haben nasse Füße, Existenzangst, unbezahlte Rechnungen, Kopfschmerzen, aber was ihnen wirklich im Nacken sitzt: »Die Hoffnung«. Von Helden schreibt er, die Helden sind, weil sie ihre »Handvoll Orden« nie als Beweis offenbaren. Aber es kommt auch jemand vor, der sagt: »Ich bin zu lange in der Flut geschwommen./ Mich haben Sand und Stürme abgeschliffen,/ und die Struktur liegt für das Auge offen. /Ich habe nur noch innen meine Kanten.«

Es sei vermutet: Wer sich in der DDR geistig eingeschwungen hatte ins teilnehmende Lebensgefühl, der las wohl den ganzen Kahlau, aber vielleicht doch nur halb. Las sich süchtig hell, aber deutete möglicherweise kaum, was Schatten warf. »Peruanische Flöte« heißt zum Beispiel ein Gedicht: »Er saß am Wald/ und hütete die Ziegen./ Er schnitzte sich die Flöte,/ blies sein Lied,/ damit sie ihn/ am Fluß beim Waschen hörte.// Die Flöte fanden sie/ nach neunmal tausend Jahren./ Das Lied ist fort.«

Kann man's bestürzender fassen? Dies verfluchte Verwehen, dies elende Verwittern, diese Vergeblichkeit, dies Grauen, bereits im schönsten Dasein einem unweigerlich bevorstehendem Vergessen zu gehören. Ich weiß nicht, wie ich das Gedicht damals las. So erschrocken wie jetzt gewiss nicht. Blindheit ist der Reiseführer, der die erfolgreichsten Schulen gründet.

Heinz Kahlau war oft ein Dichter der sozialistischen Gebote und Gunstbezeugungen, er dichtete, ver-dichtete Prinzipien jener Gesellschaft, die der Soziologe und Philosoph Wolfgang Engler »arbeiterlich« nannte. Kahlau beförderte Lust am Leben. Wenn man ihn las, konnte man aufatmen, die lyrische Luft schien plötzlich sauerstoffreicher als in den Gefilden etwa eines Gottfried Benn. Und durchsichtiger war diese Luft, man sah Land: das eigene. Als wäre es die Welt. Heinz Kahlaus Gedichte setzten Stents in den Kreislauf des Gemüts: Es weitete sich, in aller Enge. Er glaubte an eine besondere Kraft der Poesie: Ja (zum Leben) erzeugt Ja (zum Sozialismus).

Geboren wurde er 1931 in Drewitz bei Potsdam. Arbeitersohn. HJ. FDJ. Traktorist. Die Lungen-Tbc-Heilstätte Rathenow: Wenn man schon nicht leben kann - lesen kann man allemal. Er geht mit Büchern ins Bett. Wenn schon nicht Zeugung, so doch Überzeugung: Ich kann schreiben! Er wird Mitglied der Arbeitsgemeinschaft junger Autoren in Potsdam. Flieht nach Kritik seiner »Vielschreiberei« so arrogant wie aufgescheucht die Runde, bekommt von Arbeiterdichter Hans Marchwitza eine fieberstillende Ohrfeige, und »als mir später Brecht mit Lebenserfahrung kam, war ich mit meinen Einsichten schon weiter. Weiter durch Marchwitza«.

Erwin Strittmatter zeigt Brecht Gedichte Kahlaus, der wird am Berliner Ensemble Regieassistent, gemeinsam mit Heiner Müller. Als Lyriker wird er den Meister b.b. zunächst kräftig nachahmen: moralsichere Agitation, lustvolle Didaktik, Poesie als Lehrstuhl der Geschichtsgewissheiten, das Eingängige raffiniert ins Kunstvolle gewendet, die Parteilichkeit witzig durchtrieben. Von Buch zu Buch aber wird das stärker, eigener, tiefer: »Der Fluß der Dinge«, »Du«, »Flugbrett für Engel«, »Fundsachen«, alle Bände sehr erfolgreich. 1992 dann »Kaspars Waage«.

Kahlau geriet 1956 gemeinsam mit Manfred Bieler, Manfred Streubel, Jens Gerlach in den Verdacht »staatsbürgerlicher Hetze«; was da »hetzte«, waren zugespitzt empörte Verse über die Ungarn-Schande jenes Moskauer Systems, das als historischer Engpass immer realer, demnach als Sozialismus, mit jedem Schritt seiner »Verwirklichung«, immer fiktiver wurde. Die Stasi erpresste den Dichter, der stolperte mehrere Jahre durch ein inoffizielles Mitarbeitselend, welches das MfS wegen des Dichters »Schwankungen« schließlich mürrisch beendete. Schlimm? Ach. Man darf den Bären nicht um Kompromisse bitten, sagt der russische Volksmund. Den Bären. Kahlau war ein Mensch. Dieser Schriftsteller, der auch Theaterstücke, Kinderbücher, Hörspiele und Drehbücher schrieb, ist in gewisser Weise ein Gegenpoet zu Günter Kunert gewesen: gemeinsamer Beginn in pointierter Gedanklichkeit, das Gelegenheitsgedicht immer auch ein Lehrgedicht, Erich Fried gleichsam auf Ostdeutsch - aber wo Kunert zum entschiedenen Melancholiker, zum unbestechlichen Hymniker des Verlustgefühls und zum listigen, grandios skeptischen Genüger seiner selbst wurde, da blieb Kahlau bei aller steigenden Sarkastik und wachsenden Zweifelsfeier doch der gesellschaftssehnende Fürsprecher, einer, der die Gemeinschaft ansprechen wollte.

Ein Gedicht aus dem »Poesiealbum« von 1969 berührt mich nach wie vor besonders: »Genesung« heißt es. »Nun/ gehöre ich wieder/ zu euch./ Meine Hände bluten wieder.// Wenn ich jetzt/ unter euch bin,/ fürchte ich nicht nur/ um alle./ Nun/ fürchte ich wieder/ um mich.« Da ist die Härte einer Zugehörigkeit, die blutende Hände zum Ausweis erhebt. Da wird das Kollektiv zum Paradies der Selbstfindung wie -auflösung. Wo der Mensch um sich fürchtet, ist er sich etwas wert. Aber die Furcht könnte in Angst umschlagen. Glück und Gefahr. Glück ist Gefahr. Die unteilbare Welt.

Kahlau war ein Dichter, der die existenzielle Größe seiner Lyrik nicht selten verbarg im forsch gesetzten Zuversichtsvers. Ihn jetzt lesend, erfahre ich auch bei ihm: Die Größe eines Dichters besteht mitunter im Hochmut, die Welt warten zu lassen, bis sie ihn wirklich erfasst. Bei Kahlau: das Ermutigende in Zwillingsnähe zum Ernüchternden zu sehen. Wie war das mit der Hoffnung? Erst saß sie dem Menschen rettend im Nacken. Jahrzehnte später Verse darüber, was »Folter« ist: »Wenn dir/ bei schöner Abendröte/ die Splitter/ deiner Hoffnungen/ unter die abgebissenen/ Nägel getrieben werden.«

Am vergangenen Freitag ist Heinz Kahlau mit 81 Jahren auf Usedom gestorben.

Sein Stiefvater war Gepäckträger am Anhalterbahnhof. Er schleppte für die reichen Reisenden Habseligkeiten. Nicht anders war seine Arbeit als Dichter. Er trug den Liebenden Verse zu, mit denen sie ihre Einsamkeit besser ertragen konnten. Er legte die Lügen offen wie gezinkte Karten in einem unfairen Spiel. Die Hybris des unverstandenen Poeten lag ihm fern. Als er seinem Lehrer Brecht auf dem Hof des Berliner Ensembles den ersten Gedichtband feierlich überreichte, warf dieser ihn achtlos auf den Rücksitz des Autos und fuhr fort. Vier Wochen später fragte Brecht seinen Schüler, ob dieser enttäuscht gewesen wäre. Ja, sagte Kahlau. Darauf Brecht: »Man muss den ersten Anzeichen von Eitelkeit entgegen treten.«
An seinem 80. Geburtstag erzählte er, wie er den Baum an einer Landstraße gefunden habe, unter dem er wahrscheinlich gezeugt wurde. Seinen Vater lernte der 1931 Geborene erst 1947 kennen. Einen ehemaligen Sträfling aus dem KZ Sachsenhausen. Von da an trieb ihn Verantwortung für eine gerechtere Welt. Jetzt ist sein Herz, das den Versen den Rhythmus gab, stehen geblieben. Den Wein, den ich mit ihm trinken wollte, werde ich alleine trinken müssen. Die Fragen, die ich ihn noch fragen wollte, wird er mir nicht mehr beantworten. Die Erinnerungen, die ich ihn bat aufzuschreiben, sind nun dem Vergessen anheim gegeben. Seine Verse werden bleiben. Sein sanfter Blick auf die unwirtliche Welt. Ich beklage seinen Tod, obwohl ich weiß, daß dieses Ende zu uns gehört. Möge die Erde ihm leicht sein. Ich höre ihn mit seiner leisen Stimme: Das Wasser, / aus dem ich stamme/ fließt an meinen Augen vorbei/ und vom Himmel./Was sorge ich mich/ um Sicherheiten?/Jederzeit/ kann ich heimgehen.
 Hans-Eckardt Wenzel (Lyriker, Liedermacher, Musiker)