Polen im Kampf um die »Wahrheit«

Zwei Jahre nach dem Tod Lech Kaczynskis hängt das rechte Lager der Mordtheorie an

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 2 Min.
Der Mythos vom »Smolensker Mord« gewinnt in Polen zwei Jahre nach der Flugzeugkatastrophe am 10. April 2010 immer mehr Anhänger.

Am 10. April 2010 waren Polens Staatspräsident Lech Kaczynski, seine Ehefrau Maria und 94 weitere Personen bei der verunglückten Landung der Regierungsmaschine auf einem Flugplatz nahe der russischen Stadt Smolensk ums Leben gekommen.

Eine wachsende Zahl von Polen aus dem rechten Lager scheint davon überzeugt zu sein, dass das Desaster durch einen geplanten Anschlag verursacht wurde. 20 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage glauben fest daran. Die politische Atmosphäre im Lande ist vergiftet.

Jaroslaw Kaczynski, der Bruder des verunglückten Staatsoberhaupts, sagte jüngst, er habe »das Gefühl, dass Lech Kaczynski ermordet wurde«. Antoni Macierewicz, Vorsitzender eines Untersuchungsgremiums, dem alle Abgeordneten und Senatoren der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) angehören und das damit ein 160-köpfiges »Nebenparlament« bildet, ist sich dessen sicher: Die Russen (namentlich Wladimir Putin im Komplott mit Polens Premier Donald Tusk) hätten über dem Flughafen künstlichen Nebel aufziehen lassen, dann von Moskau aus die Order erteilt, die polnische Maschine landen zu lassen, bei der Landung aber falsche Informationen zu geben.

Die Tu-154, kurz zuvor in Russland generalüberholt, sei bereits beim Start beschädigt gewesen und überdies schon vor dem Aufprall infolge zweier Explosionen zerrissen worden. Mit diesem »Wissen« zogen Macierewicz, die Tochter des Präsidentenpaars Marta Kaczynska und die ehemalige Außenministerin Anna Fotyga in die USA, wo zwei »unabhängige Experten« sie unterstützten, und nach Brüssel, wo bei einer Anhörung im EU-Parlament die »volle Wahrheit« dargestellt wurde.

Am Ostermontag demonstrierten Anhänger der Mordtheorie vor der russischen Botschaft in Warschau. Sie verbrannten eine Putin-Puppe und trugen eine Tusk-Marionette am Galgen. Am Dienstag, dem Jahrestag der Katastrophe, wurde ab den frühen Morgenstunden informell ein nationaler Trauertag zelebriert. Auf dem Soldatenfriedhof Powazki ehrte die Regierung das Andenken der Opfer. Vor dem Präsidentenpalast in Warschau, wo wieder ein Kruzifix steht, legte Jaroslaw Kaczynski einen Kranz nieder. Aus der riesigen Menschenmenge ertönte die Nationalhymne; begleitet vom Glockenspiel mehrerer Kirchen, vertieften sich die Anwesenden ins Gebet. Auf dem Wawel zu Kraków, wo das Präsidentenpaar in der Königsgruft ruht, gab es ebenfalls einen Menschenauflauf.

Auf dem Smolensker Flughafen fand zu gleicher Stunde eine Trauerfeier statt, an der Sergej Naryshkin, der Vorsitzende der Russischen Staatsduma, teilnahm. Dienstagabend zog ein Gedenkmarsch durch Warschau, der mit einer Rede Jaroslaw Kaczynskis vor dem Präsidentenpalast eine neue Phase im Kampf um »unsere Wahrheit« einleitete.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal