Die Schüsse brachen das Eis des Schweigens

Vor 100 Jahren: Das Blutbad auf den Goldfeldern der Lena

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 2 Min.
Nikolaus II. der Blutige
Nikolaus II. der Blutige

Als der Führer der rechtskonservativen Oktobristen-Partei, Michael Rodsjanko, am 22. April 1912 die Tagung der III. Staatsduma eröffnete, gedachte er zweier Ereignisse, die Russlands Bündnispartner betrafen: des Ableben des französischen Parlamentspräsidenten und des Untergangs der »Titanic«. Der zarentreue »Volksvertreter« verschwieg eine folgenschwere Tragödie, die sich in der parlamentarischen Oster-Pause im eigenen Land ereignet hatte. Die Sprecher der linken Opposition forderten die Unterbrechung der Tagesordnung und verlangten Aufklärung über die Geschehnisse am 17. April 1912: Durch ein Militärkommando von Zar Nikolaus II. waren im Einvernehmen mit den Kapitaleignern der damals größten Goldförderstätten der Welt, der Lena-Goldfields Ltd. im südsibirischen Gouvernement Irkutsk, Arbeiter niedergemetzelt worden.

Über die schändliche Lage der dort schuftenden 45 000 Arbeiter hatte Geheimrat Manuchin dem Zaren berichtet: »Sie leben in Buden, alten Winterhütten und anderen zum Wohnen ungeeigneten Gebäuden. Die Arbeitszeit beträgt im Winter und im Sommer zehn Stunden - die Mittagspause und die oft stundenlangen Wege zur Arbeitsstelle nicht mitgerechnet.« Von dieser menschenunwürdigen Knochenarbeit profitierten die Aktienbesitzer: russische Unternehmer, Angehörige der Zarenfamilie und vor allem die britischen Kapitaleigner, die 70 Prozent der Aktien besaßen und den Präsidenten der Holding stellten.

Bereits Anfang März 1912 kam es auf den Goldfeldern an der Lena zu Arbeitsverweigerungen. Die Arbeiter forderten Lohnerhöhung, Achtstundentag und an Feiertagen eine siebenstündige Arbeitszeit. Nach 35 Streiktagen verhaftete das Zarenregime am 16. April die Streikleitung, an deren Spitze der Bolschewik Bartschow stand. Dagegen demonstrierten am folgenden Tag im Versorgungsstützpunkt Bodaibo 3000 Arbeiter. Rittmeister Terestschenko ließ seine Gendarmen auf die unbewaffneten friedlichen Demonstranten schießen; 150 Menschen wurden sofort getötet, von den 110 Schwerverletzten starben später 80. Insgesamt waren also 230 Tote zu beklagen. Auf Anfrage des linken Abgeordneten Alexander Kerenski in der Duma am 23. April rechtfertigte Innenminister Makarow das Blutbad mit den Worten: »So war es und so wird es auch in Zukunft sein.« Dies löste in der Öffentlichkeit einen Proteststurm aus; der Zar sah sich veranlasst, den Minister zu entlassen.

Die Schüsse an der Lena brachen, wie W. I. Lenin damals verallgemeinerte, »das Eis des Schweigens« und setzten den »Strom der Volksbewegung in Gang«. Allein am 1. Mai 1912 wurden in 50 Gouvernements 1000 Streiks mit fast einer halben Million Teilnehmern registriert. Als die Romanows ein Jahr später ihr 300. Dynastiejubiläum prunkvoll feierten, streikten 861 000 Lohnabhängige. Sie forderten nicht nur den Achtstundentag, sondern auch die Konfiskation des Großgrundbesitzes und eine demokratische Republik. Die Krise des Zarenregimes verschärfte sich. 1917 trat die Voraussage der Revolutionäre ein: Nikolaus, der Blutige, war auch Nikolaus, der Letzte.

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