Die Legende klebt

Mittelstandschef will Regelsatz für Jugendliche kürzen

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 3 Min.
Es ist die alte Mär vom faulen Jugendlichen: Weil im letzten Jahr die Zahl der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger stiegen, will der Bundesverband mittelständischer Wirtschaft (BVMW) die Regelsätze für Jugendliche verringert sehen.

Wer im Kampf um gesetzliche Mindestlöhne Argumente für die bundesweite Regelung von Tariflösungen sucht, kann hier erneut eines finden: Nicht nur die Entgelte auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch die für Auszubildende bieten ein Bild krasser Unterschiede. Die machen mehrere hundert Euro im Monat aus und hängen nicht allein vom Beruf ab, für den man sich entschieden hat, sondern auch davon, ob man im Osten oder Westen eine Lehre antritt. Beinahe überflüssig zu ergänzen, dass im Osten das Entgelt für Azubis im Durchschnitt niedriger ist als im Westen.

Ämter mit einem Zug permanenter Willkür

Statt jedoch über eine Angleichung der Entgelte und die Beseitigung solcher Ungerechtigkeit nachzudenken, bieten diese dem BVMW-Präsidenten Mario Ohovne gar die Gelegenheit, die Benachteiligten gegen andere Benachteiligte auszuspielen - gegen jugendliche Hartz-IV-Empfänger. In der »Bild«-Zeitung sprach sich der Mittelstandspräsident dafür aus, diesen die Regelsätze zu kürzen, denn sie erhielten schließlich mehr als manche Azubis. »Viele junge Erwachsene kassieren lieber staatliche Stütze, als arbeiten zu gehen«, zitiert die »Bild«-Zeitung Ohovne. »Deshalb dürfen die Hartz-IV-Sätze nicht höher sein als der Anfangslohn für einen Azubi.«

In den anschließenden Presseberichten wird der Regelsatz von 374 Euro dann etwa dem Entgelt eines Friseurlehrlings in Höhe von 214 Euro gegenübergestellt. Doch abgesehen davon, dass der Skandal hier im niedrigen Entgelt der Azubis liegt und nicht im zu hohen Regelsatz, abgesehen auch davon, dass das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil erst dafür gesorgt hatte, dass der Regelsatz erhöht werden musste, weil er dem Anspruch an ein Leben in Würde nach hiesigen Maßstäben nicht entsprach - abgesehen davon liegt der Regelsatz für Jugendliche ohnehin bei nur 80 Prozent des Satzes für Erwachsene. Also bei 299 Euro. Auch dass Mario Ohovne die Sanktionen der Ämter als staatliche und damit offenbar über alle Zweifel erhabene Maßnahme betrachtet, ist kein Beleg für seine Kompetenz. Allein die Zahl der erfolgreichen gerichtlichen Einsprüche von Betroffenen lässt die Sanktionsbereitschaft der Ämter seit Jahren als Maßnahmen mit einem Zug von permanenter Willkür erscheinen.

Katja Kipping, Vizevorsitzende und Sozialexpertin der Linkspartei macht auf weitere Ungereimtheiten in der Argumentation des Mittelstandsfunktionärs aufmerksam. »Null Ahnung« habe der offenbar davon, dass junge Erwachsene unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen in eine Ausbildung oder Arbeit zu vermitteln sind. »Wenn Jugendliche diesen Angeboten nicht Folge leisten, wird sofort die Regelleistung gestrichen. Beim zweiten Mal entfällt sogar auch die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung.«

Kipping: Fall für den Verfassungsschutz

Dass also viele Jugendliche staatliche Stütze kassieren statt arbeiten zu gehen, ist eine Legende. Für Katja Kipping ist damit Mario Ohovne nicht nur ein Ahnungsloser, sondern sie fragt sich, ob er nicht gar ein Fall für den Verfassungsschutz wäre. Denn wie der Umgang mit den Jugendlichen zeigt, sei »mit Hartz IV ... für die Betroffenen bereits jetzt schon ein skandalöser und verfassungswidriger Zustand erreicht«. Die von Ohovne geforderte weitere Kürzung des Regelsatzes würde diesen noch verschlimmern. Und Kippings Rat an diesen: »Mario Ohoven sollte sich besser Gedanken über höhere Ausbildungsvergütungen und bessere Ausbildungsbedingungen machen.«

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