Strafen fehl am Platze

  • Hans-Christian Ströbele
  • Lesedauer: 3 Min.
Hans-Christian Ströbele, Jahrgang 1939, ist Rechtsanwalt und für Bündnis 90/Die Grünen Abgeordneter des Bundestages.
Hans-Christian Ströbele, Jahrgang 1939, ist Rechtsanwalt und für Bündnis 90/Die Grünen Abgeordneter des Bundestages.

»Meinen Sie das ernst, Herr Ströbele?« fragte die Schlagzeile der »Bild«-Zeitung scheinbar empört. Es ging um meine Meinung, das Verbot des Beischlafs unter erwachsenen Verwandten aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, wenn sie freiwillig und selbstbestimmt handeln. Begründet wird die Empörung im Kommentar damit, dass solche »moralischen Verbrechen fast immer mit Missbrauch und Abhängigkeit einhergehen«. Verschwiegen wird geflissentlich, dass der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung vor sexuellem Missbrauch und vor sexuellen Handlungen mit Abhängigen, etwa mit Schutzbefohlenen und Anvertrauten, durch mehrere andere Strafvorschriften mit hohen Freiheitsstrafen bedroht ist. Dabei soll es bleiben.

Der Paragraf 173 des Strafgesetzbuches, den ich abschaffen will, wird für diesen Schutz nicht gebraucht. Er ist dafür untauglich, denn nur der Vollzug des Beischlafs wird bestraft. Alle anderen sexuellen Handlungen und Betätigungen zwischen Geschwistern und anderen nahen Verwandten sind gar nicht betroffen, also schon heute straflos.

Nach dem Artikel in der »Bild«-Zeitung habe ich viel Schmähpost erhalten. Ich soll zum Psychiater oder besser gleich in eine Anstalt, oder die Sache könne mit Genickschuss erledigt werden.

Aber ich bin doch mit meiner Auffassung in guter Gesellschaft. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, hält es für richtig, dass Beischlaf unter erwachsenen Geschwistern nicht strafbar ist. Fast die Hälfte der Länder Europas auch. Deshalb wurden Kriminalstrafen für solche Beziehungen im Zeichen der Aufklärung in Frankreich gleich nach der französischen Revolution vor 200 Jahren abgeschafft. Und deshalb gibt es in vielen anderen zivilisierten Staaten Europas wie Spanien, Holland und Russland keine solchen Strafvorschriften.

Ich halte hohe Gefängnisstrafen wegen Beischlafs unter erwachsenen Verwandten für nicht mehr zeitgemäß. Sie sind mit einer geläuterten modernen Auffassung von Sexualität und Familie nicht vereinbar. Sie sind verfassungsrechtlich äußerst zweifelhaft. Diese Zweifel finden sich auch in der Kommentierung zu der Strafvorschrift. Ein ausreichender rechtlicher Grund für die Strafbarkeit gerade des Beischlafs, aber die Straflosigkeit aller anderen sexueller Praktiken, wird vermisst.

Man mag aus moralischen oder religiösen Gründen solche Beziehungen ablehnen, aber nicht mit hohen Freiheitsstrafen staatlich verfolgen. Kriminalstrafen sind hier fehl am Platze.

Auch das Risiko gesundheitlicher Schäden bei Kindern, die aus einer solchen Beziehung hervorgehen können, kann die Strafbarkeit nicht rechtfertigen. Schließlich besteht auch sonst ein solches Risiko und zwar häufig ein viel höheres, etwa bei Erbkrankheiten der Beziehungspartner oder bei Alko- hol-, Drogen- oder Nikotinabhängigkeit der Mütter. Gleichwohl kommt niemand auf den Gedanken, den Beischlaf solcher Personen mit Kriminalstrafen zu ahnden. Das Beziehungspaar, von dem ein Gesundheitsrisiko ausgeht, sollte in jedem Fall verantwortlich mit der Frage umgehen, ob es zu einer Schwangerschaft kommen kann. Aber das strafrechtliche Verbot gehört da nicht hin. Es kann kein strafrechtlich zu schützendes Interesse eines Kindes geben, wegen eines Risikos der Schädigung nicht geboren zu werden. Darauf weisen Rechtsgelehrte zu Recht hin.

Nach der Abschaffung der staatlichen Bestrafung von Ehebruch und Homosexualität sollte auch das Tabu der Strafbarkeit von Beischlaf zwischen Verwandten angegangen werden. Dass es dieses Verbot seit Jahrhunderten gibt, ist kein überzeugendes Gegenargument. Auch für Ehebruch und Homosexualität zwischen Männern gab es jahrhundertelang Verbote und gar die Todesstrafe in der Bibel. Ehebruch findet sich sogar unter den zehn Geboten. Trotzdem wurde die Strafbarkeit aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung letzte Woche die Strafbarkeit von Beischlaf zwischen Verwandten auch nicht etwa gefordert oder befürwortet, sondern den europäischen Staaten lediglich in dieser Frage moralischer Maßstäbe, ob sie solches unter Strafe stellen oder nicht, einen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Den können wir nutzen.

Ja, ich meine das ernst - trotz »Bild«-Zeitung.

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