nd-aktuell.de / 21.04.2012 / Kultur / Seite 17

Lichtblicke zwischen Ebbe und Flut

Zeitenwende für das Amrumer Kino

Ulrike Gramann
Der schöne alte Eingang wird schon nicht mehr benutzt.
Der schöne alte Eingang wird schon nicht mehr benutzt.

Nach Amrum kommt man nicht schnell mal. Zwei Stunden braucht das Schiff vom Fährhafen Dagebüll, vorausgesetzt, kein Ostwind bläst das Wasser aus der Fahrrinne. Fünf Dörferchen mit 2281 Bewohnern, Heide, ein Wald und viel, viel Sand bilden die Nordseeinsel. An der breitesten Stelle des Strandes meint man, in einer Wüste zu stehen, das Meer da vorn scheint eine Fata Morgana zu sein. Wozu noch Kino, wo Nordsee, Dünen und Himmel Breitwand und Multicolor sind, jeden Tag anders, dramatisch schön? Aber spätestens wenn der Dokumentarfilm »Sturmflut! Schönheit und Vergänglichkeit der Küste und ihrer Inseln« gezeigt wird, lockt gerade die Natur ins kleine Norddorfer Kino »Lichtblick«. Der Kinosaal, eine Höhle mit sanftem Staubgeruch, weckt Erinnerungen, wenn der schwere Vorhang sich öffnet und der Kartenverkäufer ruft: »Will jemand ein Eis?« Selbst im strengen Februar 2012 muss er mehrmals Nachschub holen, ehe »Der gestiefelte Kater« in 3D beginnt. Nicht nur die neue Technik, auch die alte Bauer B12 aus den 1950er Jahren weist auf Wandel. Seit im Vorführraum neben der analogen eine digitale Maschine aufgestellt wurde, steht sie im Foyer.

In diesen Tagen beginnt die letzte Saison des alten Inselkinos. Am 1. Oktober 2012 wird das Seeheim abgerissen, in dem sich das Kino, eine Bankfiliale und einige Wohnungen befinden. Der Charme des zweistöckigen Backsteingebäudes vom Beginn des 20. Jahrhunderts hat durch einen unsensibel angesetzten Vorbau gelitten. Deshalb sieht man nicht sofort, dass Formen und Proportionen denen des großen, hell verputzten Hotels in der Nachbarschaft ähneln. Könnte man nicht den Vorbau abreißen, das Gebäude sanieren? Das, ist bei Amrum-Touristik zu hören, käme teurer als Neubau.

Ralf Thomsen ist auf Amrum geboren. Das Seeheim, erzählt er, war einst ein kleines Hotel mit Fernsehraum für die Kurgäste. Das Kino wanderte damals durch die Mehrzwecksäle der Dörfer Wittdün, Nebel und Norddorf. Anfang der 1970er Jahre entschloss sich der Betreiber, im Seeheim ein festes Kino einzurichten. Thomsen jobbte schon mit 13, 14 Jahren dort. Dann studierte er Elektrotechnik. In den Semesterferien arbeitete er, natürlich, im Kino, riss Karten ab, spulte Filme um, führte vor. Als der alte Kinobesitzer Amrum verließ, wurde Thomsen gefragt, ob nicht er das Kino pachten wolle. Er sagte ja und brach das Studium kurz vorm Abschluss ab. War das nicht riskant? »Nein! Ich wusste, dass ich es besser machen kann.« Im ersten Jahr verdoppelten sich die Besucherzahlen, obwohl Thomsen die Zahl der Plätze drastisch verringerte. 180 Kinostühle auf engem Raum wurden durch 127 bequeme Polsterstühle ersetzt. Dazu kam eine technische Modernisierung mit Dolby-Surround-Anlage und neuer Leinwand. »Dann haben wir inselweit Werbung mit selbst gestalteten Programmplakaten gemacht, das Filmprogramm handverlesen. Das war alles gar nicht so schwer, nur viel Arbeit mit viel Herzblut.« Thomsens Partnerin Ulrike Keppler, gelernte Erzieherin und Musiktherapeutin aus dem Allgäu, erzählt: »Ich bin durch die Liebe zur Insel und zu meinem Mann hierhergekommen. Mit dem Kino fing unsere Selbstständigkeit an. Wir haben Kino gemacht bis nachts, auch als die Kinder kamen. Viel Arbeit, aber du weißt, für wen.« Dennoch wurden Mitarbeiter gebraucht, und das, obwohl man »von einem kleinen Kino nicht leben und nicht sterben kann«, wie sie sagt. Nicht zuletzt deshalb entschied sie sich für den »Spagat zum Festland«, wo sie zeitweilig Seminare für Beschäftigte eines großen Autokonzerns gibt, Thema: »Selbstverantwortlich handeln«. Auch Thomsen wurde zum Pendler, als er ein zweites Kino in Heide (Holstein) eröffnete. Als Filmfan mache ihm die Fahrerei nichts aus.

»Lichtblick« ist ein kommerzielles Kino. Das Programm mischt Kassenschlager des Mainstream-Kinos mit Arthouse-Filmen und wechselt alle zwei Tage. Dabei aktuell zu bleiben, ist nur möglich, weil »Lichtblick« mit neun anderen Kinos auf den nord- und ostfriesischen Inseln in den »Vereinigten Lichtspielen« verbunden ist. So kommen Besucherzahlen zusammen, die eine gute Verhandlungsbasis gegenüber dem Verleih bilden. Diesen Verbund, den Freymuth Schultz vom Borkumer Kino initiierte, nennt Thomsen »einmalig in Europa«. Kepplers trockene Einschätzung: »Sonst könnten wir hier nur Hans Albers zeigen.« Die Inselkinos teilen sich eine Kopie und senden sie alle zwei Tage weiter. Bis 2011 wurden die schweren Filmrollen regelmäßig vom Inselflieger Jan Brunzema transportiert, noch heute springt er manchmal ein, selten. Nach Amrum kommen die Filme seit je mit dem Schiff von Föhr, das über einen Flugplatz verfügt. Heute bringt die Post die Festplatten mit den digitalen Kopien; im Notfall wird ein Motorboot geschickt. So können die Urlauber während ihres Aufenthalts mehrmals ins Kino gehen. Und das tun sie auch, wie die Hausgäste von Helmut Bechler, der beim Leuchtturm arbeitet. Sie bleiben vier Wochen und gehen jede Woche zweimal ins Kino, wofür ihnen zu Hause in Stuttgart die Zeit fehle. Er selbst, Bechler, sei kein großer Kinogänger, trotzdem finde er das Kino wichtiger als etwa einen Golfplatz, für den es auf Amrum zum Glück keine Mehrheiten gebe.

Die Pacht, so Thomsen, sei günstig. Doch »aus dem Vollen schöpfen«, Kepplers Wunsch, kann das Kino nicht. Zuweilen sei sie weniger Geschäftsfrau als Pädagogin, Eltern, die mit kleinen Kindern in ungeeignete Filme kämen, gebe sie schon mal den geschäftsschädigenden Rat, lieber ein Eis essen zu gehen. Von den Banken und von guten Filmen sei das Kino abhängig, auch vom Wohnraum, ohne den man die Mitarbeiter nicht halten könne. Das Wort Mitarbeiter erinnert wieder an den Abriss. Der ehrenamtliche Bürgermeister Peter Kossmann, zugleich Besitzer des Romantikhotels Hüttmann, erklärt: »Man kann das Seeheim nicht so stehenlassen, aber für den Tourismus werden die Räume gebraucht.« Und was wird aus dem Kino? »Es muss modernisiert werden. Nicht nur die Gäste, nicht nur die Norddorfer, alle Inselbewohner profitieren davon.« Und so groß sei das Projekt, das offiziell »Dorfmittelpunkt« heißt, auch wieder nicht. Der Neubau soll 1,3 Millionen kosten, von denen die Gemeinde 558 000 Euro als Zuschuss von Bund und Land eingeworben hat, Förderung für den ländlichen Raum. Am 1. Mai 2013, sieben Monate nach Abrissbeginn, soll der Neubau stehen, das Kino am 1. Juni eröffnet werden. Kossmann wirkt gelassen: Die Vorbereitung durch eine Gruppe aus vier Gemeinderäten habe lediglich ein Jahr gedauert. Nun, da die Bauvoranfrage positiv beschieden, der Bauantrag gestellt sei, müsse »nicht jede Steckdose« noch im Gemeinderat diskutiert werden. »Das Gebäude ist pünktlich fertig, schließlich wird es nicht unterkellert«, verspricht Kossmann. Theaterleiter Uwe Nöbel ist vorsichtiger: »Man weiß nicht, wie der Winter wird.« Wenn die Bauarbeiten zu lange unterbrochen würden, bedeute das für ihn Planungsunsicherheit, Thomsen und Keppler empfänden sicher ebenso. Erleichternd ist: Das Kino wie fast alles auf Amrum ist ein Saisongeschäft. Winterkino gibt es einmal pro Woche, nur das wird von Amrum-Touristik bezuschusst. Ab 15. März werden drei Filme am Tag gezeigt, im Sommer fünf und manchmal noch einer in der Nacht. Acht Monate des Jahres erwirtschaften den Unterhalt für zwölf. Sie müssen es auch.

Eine Insel ist eine eigene Welt: Kommt die Inselärztin ins Kino, hat sie ihren Piepser dabei. Wird sie plötzlich gebraucht, kann sie sich am Folgetag den Film zu Ende anschauen, ab eben jener Stelle, wo sie tags zuvor ging. In diesen Mikrokosmos, sagt Keppler, holt das Kino die Welt. »Am schönsten ist es, die Menschen lachend oder weinend aus dem Kino kommen zu sehen. Wechselnde Filme, wechselndes Publikum, nicht immer das Gleiche.« Nach Amrum kämen vor allem Familien und »naturverbundene Intellektuelle«. Deshalb könne »Lichtblick« gute Filme zeigen, nichts, was unter die Gürtellinie geht. Ideen hat Keppler noch viele. Einmal hat sie eine Ernst-Lubitsch-Matinee organisiert, die durch Live-Percussion begleitet wurde; letzten Sommer zeigten sie »Die Nordsee von oben« am Strand und bei Vollmond. Eine Sondervorführung gab es auch in André Kruses Laden »Wein und Meehr« im Nachbardorf Nebel. Kruse, der jahrelang in Südafrika lebte, ehe er nach Amrum kam, reichte Feuerzangenbowle - dreimal darf man raten, zu welchem Film.

Wie er ist Theaterleiter Uwe Nöbel ein Neu-Amrumer. Der gelernte Versicherungskaufmann hat nie im Kino gearbeitet, bis er Anfang 2010 im »Lichtblick« anfing. Neben Saisonkräften und Aushilfen, die ihm zufolge die Kinojobs gern zur Berufsfindung nutzen, ist er der einzige ganzjährig Angestellte, ein »Allrounder«, der Filme vorführt, Abrechnungen und Personalplanung genauso übernimmt wie kleine Reparaturen und auch die Toiletten putzt. Zwei Monate im Sommer ist das Kino zu 90 Prozent ausgelastet. »Wir fahren auf 300 Prozent hoch und haben wenig Ausgleich, danach geht es rapide runter. Viele fallen bei solchen Bedingungen in ein tiefes Loch.« Schlimm für ihn sei es nur im ersten Jahr gewesen. Nöbel gefällt, dass er die analoge Technik noch beherrscht: »Wenn das weg ist, auch das Ambiente, werde ich traurig sein. Aber ich bleibe!« Er kommt aus Karlsruhe, vom tiefen Westen in den hohen Norden. »Diese Stelle hat gepasst, auch die Arbeitszeiten passen mir.« Dabei können das im Juli und August bis zu 240 Stunden im Monat werden. »Die Zeitfenster sind enger geworden, seit die digitalen Filme mit einer Festplatte kommen. Im Kino werden sie auf den eigenen Server gebracht und zum Vorführtermin entsperrt.« Die Schlüssel dafür kommen oft nur Stunden, manchmal Minuten vorher per E-Mail.

Anders als Keppler, die fliehen möchte, wenn das alte Seeheim abgerissen wird, bedauert Thomsen es nicht. Sie waren nicht die einzigen Bewerber um die Kinopacht. Die Gemeinde entschied für sie. Für die Ausstattung werden sie Kredite in sechsstelliger Höhe aufnehmen. In seiner ersten Saison soll das neue Inselkino in dann zwei Sälen bis zu 20 Filme pro Woche zeigen, es soll plüschig bleiben, bequemer werden. Von der Bauer B12 im Foyer würden sie sich nie trennen, doch laufen werden digitale Filme, für Thomsen eine Erleichterung: »Früher haben wir die Filme geklebt, bis der Arzt kommt. Oft war es Glück, wenn ein Film störungsfrei durchlief.« Und was wird aus »Sturmflut!«, dem Film, der die Inseln und Halligen zeigt, aufregende Bilder der anbrandenden Nordsee bei Sturm? »Der«, sagt Thomsen, »wird digitalisiert.

Betreiberin Ulrike Keppler mit der ausgemusterten Vorführmaschine Bauer B12.
Betreiberin Ulrike Keppler mit der ausgemusterten Vorführmaschine Bauer B12.