nd-aktuell.de / 03.05.2012 / Kultur / Seite 13

Auf der Durchreise

Jo Baier verfilmte für die ARD Hermann Hesses »Die Heimkehr«

Gunnar Decker
August Zirner
August Zirner

Der da mit der Bahn nach Gerbersau kommt, trägt einen Blumentopf unter dem Arm. Ist das Harry Haller, der potenzielle Selbstmörder, alter ego Hermann Hesses im »Steppenwolf«, für den die Araukarie das Sinnbild kleinbürgerlicher Existenz darstellt, die ihn immer wieder anzieht und abstößt zugleich? Ja und nein.

»Die Heimkehr« kennen nur wenige Leser. Kein Wunder, diese Erzählung von 1909 wirkt epigonal, erinnert allzu offensichtlich an Gottfried Kellers »Leute von Seldwyla«. »Gerbersau«: Synonym für Hesses schwäbische Geburtsstadt Calw. Und das soll die erste deutsche Hesse-Verfilmung werden? Es gibt bereits zwei starke, höchst eigenwillige Hesse-Verfilmungen: »Siddhartha« von Conrad Rooks (1972) und »Steppenwolf« von Fred Haines (1974) mit Max von Sydow und Domenique Sanda.

Regisseur Jo Baier (»Der Laden«) offenbart im Interview das Dilemma, in dem er sich im Gespräch mit den Fernsehredakteuren des SWR befand. Denen gefiel sein Vorschlag nicht, die großartig-expressive Erzählung »Klingsors letzter Sommer« von 1919 über den kurzen rauschhaft-südlichen Höhenflug eines Malers zu verfilmen. Mit einem Blick auf die Landkarte erkannten sie: Das Tessin gehört nicht zum Sendegebiet des SWR, Baier möge sich doch bitte bei seiner Hesse-Verfilmung auf Schwaben beziehen. Sind nicht Calw und Maulbronn viel passendere Gegenden für einen Jubiläums-Film zu Hesses 50. Todestag?

Nun weiß man, dass Hesse sich als Kind in Calw überaus fremd fühlte; die ganze Familie, die aus pietistischen Missionaren bestand und zuvor auch in Indien gelebt hatte, kam den braven Calwern so suspekt vor wie fahrende Zigeuner. Und aus dem Kloster Maulbronn lief er fort - Schwaben ist ihm immer etwas gewesen, das er später nur kurz auf der Durchreise ertrug, ab 1937 kam er nie mehr nach Deutschland.

Reist man heute nach Calw und tritt aus dem Bahnhof, um die Hermann-Hesse-Straße hinauf zu gehen, über den Hermann-Hesse-Platz nahe beim Hermann-Hesse-Museum - man prallt zurück: Ein riesiges Parkhaus aus Beton schiebt sich fast über die Nagold, auf der zu Hesses Zeiten die Flößer fuhren. Heute gibt es hier eine Autobrücke und moderne Zweckbauten, die sich überall ins Tal quetschen. Calw nennt sich Hermann-Hesse-Stadt, darum steht er, als freundlicher Provinzler in Bronze gegossen, auch in der Fußgängerpassage und auf jener alten Brücke, die vermutlich Hermann-Hesse-Brücke heißt. An fast jeder Hauswand haben sie ein Zitat von Hesse geschrieben, auch der Teller, von dem ich esse, ist mit einem Spruch des Dichters versehen. Hermann Hesse hat die Bewohner seiner Geburtsstadt selten gehasst, jedoch oft nur aus ironischer Distanz ertragen.

Das Schöne ist nun, bei allem, was gegen eine Verfilmung von »Die Heimkehr« sprach, dass Jo Baier einen großartigen Film gedreht hat! Anfangs wirkt er vielleicht etwas bieder und konventionell (wie mancher Text Hesses auch) - doch dann bemerkt man, dass der Geist darin ein ganz anderer ist: ein scharf beobachtender, der das verräterische Detail nie bloßstellt, jedoch entschlossen die provinzielle Enge aufsprengt.

August Zirner gibt August Staudenmeyer (in Hesses Erzählung hieß er noch in schöner Geradlinigkeit August Schlotterbeck) die stille Aura des souveränen Außenseiters, der nicht auf Außenweltakzeptanz angewiesen sein will. Im weißen Anzug mit Hut und Brille, die aus Hermann Hesses Nachlass stammen könnten, ähnelt er diesem natürlich auffällig - und zugleich dessen Romanfigur Harry Haller, dessen Geist hier jederzeit spürbar wird.

Es ist aber nicht jene berühmte Araukarie, sondern ein Erbeerbaum von der Krim, den Staudenmeyer nach Gerbersau bringt: ein für diese Gegend, das ist sofort klar, allzu exotisches Gewächs. Dieser fremdländische Blumentopf wird nun so etwas wie ein Leitmotiv. Hesse ist bei seiner Geburt russischer Staatsbürger, als er vier war, zog die Familie nach Basel, mit neun kam er zurück. Heimat: von Anfang an ein Unterwegssein, alles Deutsch-Nationale ist ihm erst fremd, dann ausgesprochen verhasst.

Baier kennt seinen Hesse, weiß sicherlich auch, dass »Die Zeit« zu dessen Tod 1962 schrieb, mit diesem Autor sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Da ist er! »Die Heimkehr«, die wir nun sehen, wird zur klugen und immer dem Geist Hesses verpflichteten Projektionsfläche. Baier (der auch das Drehbuch schrieb) erfindet reichlich Figuren hinzu - Hermann Mohr etwa, den in der Provinz verkümmernden Künstler, auch so ein Hesse-Doppelgänger, oder den Bürgermeister, den bigottesten aller Gerbersau-Bürger, den Herbert Knaup präzise trifft. Dieser Film verlangt vom Zuschauer, ganz genau hinzuschauen, um zum Glutkern seiner Poesie zu gelangen.

Der SWR wollte von Baier einen Heimatfilm - nun hat er ihn bekommen, sogar einen herausragenden! Jedoch einen, in dem kein Heimatdichter vorkommt, nicht einmal Heimat - sondern ein Weltautor, der die moralischen Abgründe der Provinz immer wieder neu mit aller Schärfe porträtiert. Nein, kein Film zum Wohlfühlen, sondern ein Blick ins Bestiarium namens Kleinstadt.

Es wird viel geschwäbelt (nur August Staudenmeyer spricht hochdeutsch), aber es klingt nie anheimelnd, sondern eher nach Geräuschen aus dem Dschungel. Wie genau porträtiert Baier dieses ganze Personal der spießigen Bedeutsamkeitshuber, mitsamt ihrer Verlogenheit und kaum verborgenen Vernichtungslust gegen alles Unbekannte und Fremde. Der Heimkehrer findet in Hermann Mohr seinen einzigen echten Freund, der in Gerbersau längst resignierte: »Wenn du hier leben willst, musst du dich anpassen und nach der Mehrheit richten.« Doch er selbst stirbt kurz darauf an der Stickluft hier.

Die einzige, die sich nicht den Erwartungen der regierenden Spießerwelt beugt, ist die Witwe Entriß, die Heike Makatsch großartig als einen auf verlorenem Posten ausharrenden Menschen zeigt, inmitten all der üblen Nachrede, der »Enge hier, der vielen kleinen Ängste«. Die Schauspieler, von Margarita Broich bis Oliver Stokowski, haben entscheidenden Anteil daran, dass »Die Heimkehr« mehr als eine bloße Literaturverfilmung geworden ist: ein gelungenes Seelenporträt Hermann Hesses.

Baier scheint sich mit Hesse darin einig: Dieses Ausharren auf einem verlorenen Posten ist der einzig wahre Heroismus, den es im Leben zu erreichen gilt. Aber manchmal erweist es sich dann doch als ein korrekturbedürftiger Zustand: Rückzug, Flucht, Kapitulation scheinen humaner. Schnell gerät der Heimkehrer aus Amerika und Russland, von dessen Reichtum man in Gerbersau anfangs zu profitieren hoffte, wieder ins Abseits. Hesse formuliert die wachsende Pogromstimmung in dieser »kleinen, ängstlich behüteten Welt amtlicher Machthaber und ihrer Frauen« so: »Da sammelten sich unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten seiner Verfehlungen zu säuberlich gebuchten Summen an, von denen er keine Ahnung hatte, und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu.«

Eine Heimkehr, so bemerkt Staudenmeyer-Schlotterbeck, gibt es nicht. Es gibt immer nur wahre Sehnsucht und falsche Sentimentalität. Darum zieht er am Ende weiter, lässt Gerbersau zum zweiten Mal zurück. In der Hermann-Hesse-Stadt Calw mochte Baier übrigens nicht drehen, er ging nach Schwäbisch-Gmünd und Schwäbisch-Hall, die ihre Parkhäuser noch vor sich haben. Die Calwer, die sich für das einzig wahre Gerbersau halten, haben ihm das vermutlich übelgenommen. Eine in der Stadt geplante Voraufführung des Films wurde wieder abgesagt.

Im Anschluss an »Die Heimkehr«, zu dem Udo Lindenberg übrigens das Lied »The River« schrieb, war ein Dokumentarfilm zu sehen mit dem abstoßend-peinlichen Titel: »Hermann Hesse Superstar«.

Gunnar Decker ist Autor der soeben erschienenen Hesse-Biographie »Der Wanderer und sein Schatten« im Carl Hanser Verlag München