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Jüdischer Heroismus

Der verkannte polnische Widerstand gegen die Nazi-Okkupanten

  • Michael Berger
  • Lesedauer: 3 Min.
Denkmal der Ghetto-Helden in Warschau
Denkmal der Ghetto-Helden in Warschau

Will man die Geschichte des europäischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nicht nur aus dem Blickwinkel der »nationalen Befreiung« betrachten, muss auch der Warschauer Ghettoaufstand über seine Einzigartigkeit in der Geschichte des Widerstandskampfes des jüdischen Volkes hinaus als gleichbedeutend mit dem Warschauer Aufstand polnischer Patrioten gegen die Naziokkupation gewürdigt werden.

Bereits 1942 schrieb Ignacy Schwarzbart, Mitglied des polnischen Exil-Nationalrats, in sein Tagebuch, es würden Informationen über die Verbrechen an den Juden zurückgehalten, weil die Polen »die Verdunkelung polnischer Leiden durch jüdische Leiden« nicht zulassen wollten. Dieser »Wettstreit um die Gloriole des Leidens« prägte auch die polnische Geschichtsschreibung der Nachkriegsjahre und fand seine Fortsetzung in der Relativierung des jüdischen Widerstands in Polen auf einige kämpfende Zivilisten. Tatsächlich jedoch gehörten jüdische Soldaten zur Tradition im polnischen Militär. 1939 gab es in der polnischen Armee 150 000 jüdische Soldaten und Offiziere. Sie schlossen sich während der deutschen Okkupation ihrer Heimat sowohl dem Bund für den bewaffneten Kampf (ZWZ) und der hieraus im Februar 1942 entstandenen Armia Krajowa als auch der durch die Sowjetunion unterstützten kommunistischen Volksgarde/Volksarmee (GL; später AL) an.

Am 19. April 1943 begann der Aufstand gegen die drohende Liquidation des Warschauer Ghettos durch SS- und Polizeieinheiten unter Führung des SS-Generals Jürgen Stroop. Die mutige Erhebung wurde von der aus linksorientierten Gruppierungen entstandenen jüdischen Kampforganisation ZOB unter der Führung von Mordechai Anielewicz und dem von rechten Zionisten und Offizieren der polnischen Armee gebildeten Jüdischen Militärverband ZZW getragen, die sich zum Jüdischen Kampfbund zusammengeschlossen hatten. Anielewicz, sein Stab und über 100 Kämpfer der ZOB starben am 8. Mai 1944, nachdem ihr Kommandobunker in der Milastraße 18 von den Deutschen entdeckt worden war. Der Widerstand hielt jedoch noch bis zum 16. Mai an. Danach brannte die SS das Ghetto nieder; nur wenigen Überlebenden gelang die Flucht, darunter Marek Edelman, Zivia Lubetkin und Hirsch Berlinski, die alle drei auch am Warschauer Aufstand im folgenden Jahr teilnahmen, der von der polnischen Heimatarmee, der Armia Krajowa (AK), gewagt wurde.

Deren Mitglieder hatten sich gegenüber den Ghettokämpfern äußerst zurückhaltend verhalten, sowohl bei der Lieferung von Waffen als auch der Unterstützung des bewaffneten Kampfes oder der Rettung von Überlebenden. Wesentlich mehr Hilfe war von Seiten der Volksgarde, der Gwardia Ludowa (GL), erfolgt. Die zögerliche Haltung der Heimatarmee war vor allem antisemitischen Tendenzen in der AK geschuldet. Dies war auch ein Grund dafür, dass sich mehr Juden der Gwardia Ludowa, die am 1. Januar 1944 in Armia Ludowa (AL) umbenannt wurde, anschlossen.

Die AL unterstützte auch den am 1. August 1944 von der AK begonnenen Aufstand in Warschau gegen eine Übermacht von Wehrmacht, Polizei und Waffen-SS, zu deren Verstärkung zwei berüchtigte Einheiten abkommandiert wurden: das SS-Sonderkommando »Dirlewanger« und die »Sturmbrigade RONA«. Erstere bestand aus Kriminellen, geführt von Oskar Dirlewanger, einem wegen Vergewaltigung Minderjähriger verurteilten Gewalttäter, letztere war die von Mieczyslaw Kaminski geführte sogenannte Russische Nationale Befreiungsarmee, bestehend aus ehemaligen Soldaten der Roten Armee. Beide Einheiten standen unter dem Befehl des SS-Generals Heinz Reinefarth. Den Oberbefehl über alle in Warschau eingesetzten deutschen Truppen hatte der SS- und Polizeigeneral Erich von dem Bach-Zelewski.

Auch der Warschauer Aufstand wurde brutal niedergeschlagen, die polnische Hauptstadt fast vollständig zerstört. Die meisten deutschen Kriegsverbrechen in Warschau blieben ungesühnt. Bach-Zelewski wurde 1962 zwar zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, jedoch wegen seiner Beteiligung an der Niederschlagung des so genannten Röhm-Putsches 1934; er starb 1972. Reinefarth, verantwortlich für die Ermordung von mehr als 100 000 polnischen Zivilisten, war nach dem Krieg Bürgermeister von Westerland und Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein. Gegen ihn geführte Ermittlungen wurden ohne Anklage eingestellt; er starb 1979 auf Sylt. Stroop wurde von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und 1952 hingerichtet. Dirlewanger, Anfang 1945 in französische Kriegsgefangenschaft geraten, wurde von polnischen Wachleuten erkannt und erschlagen.

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