nd-aktuell.de / 24.05.2012 / Kultur / Seite 15

Ein Autor im Anzug

Sarrazin in Potsdam

Werner Liersch
Der Potsdamer »Nikolaisaal« war bis auf den letzten seiner 725 Plätze gefüllt. Einige der Teilnehmer der Berliner Pressekonferenz gestanden später freimütig in ihren Blättern, dass es ihnen an »Unverschämtheiten« gefehlt hätte, sie Schlagzeilen in Leuchtbuchstaben vermisst hätten. Auch Potsdam hätte sie enttäuscht.

Lediglich an Anfang und Ende der »Buchpremiere« gab es ein paar Unregelmäßigkeiten. Die mit der Ordnung beauftragten Sicherheitskräfte sorgten vor Beginn mit ihren Kontrollen für eine gewisse Unordnung und am Ende die gegenläufigen Besucherströme auf den Seitentreppen des Nikolaisaals. Während die einen den Weg zum Ausgang nahmen, strebten die anderen hinunter zur Bühne, um sich dort ihr Buch von Sarrazin signieren zu lassen. Eine Abstimmung mit den Füßen war es nicht, die findet eher gegen die veröffentlichte Meinung statt, in Potsdam kam aus dem Saal jedenfalls nichts Kontroverses. Kein Anlass diese Reaktion für eine Publikumsbeschimpfung, doch ein Grund mehr, über das Versagen der Skandalisierung als journalistischem Prinzip nachzudenken - wofür der Fall Sarrazin reichlich Stoff liefert.

In diesem Umfeld drängt sich vor die Frage, ob Griechenland ein hoffnungsloser Fall sei oder nicht, ob der Euro Deutschland etwas gebracht habe oder nicht, der Schnitt von Sarrazins grauem Anzug. Hier überrunden Sarrazins Beobachtungen, wie skrupellos Kanzler Kohl Sacherwägungen politischem Kalkül opferte, akribische Rechenkunststücke, wie viel Sarrazin am neuen Buch verdient. In diesem Milieu ist ein menschenfeindlicher Satz in einer Hauptstadtzeitung ungerügt möglich, in dem Sarrazins Auftritt in Jauchs Talkshow als »Verplemperung unserer Fernsehgebühren für diese lispelnde, stotternde Menschenkarikatur« bezeichnet wird.

In Potsdam trug Sarrazin den grauen Anzug von einfachem Schnitt. Hinter dem durchsichtigen Lesepult ringelte er gelegentlich das eine Bein um das andere. Auch stotterte er nicht. Selbst mit lila gefärbtem Haar, wozu sich sein voller Schopf gut eignete, hätte er das Buch geschrieben, das er geschrieben hat - und das ist zu diskutieren.