Kindle

Uwe Kant über ein Technik-Abenteuer

  • Lesedauer: 8 Min.
Kindle

Mit dem Namen fängt es an. Wie man weiß, beschäftigen große Firmen teure Spezialisten, um Namen für ihre Produkte ersinnen zu lassen, die weder bei katholischen noch bei islamischen Stämmen glaubensgespeisten Unwillen erregen, sympathisch, anständig, dynamisch, zuverlässig, politisch korrekt, positiv klingend, alles und nichts bedeutend in den Sprachen, die einigermaßen zählen auf dem Weltmarktplatz. Der kurzfristige Versuch, ein ohnehin leicht zweifelhaftes Automobil aus Rumänien auch noch mit dem Namen Oltcit ( c wie sch) in Umlauf zu bringen, blieb vor Zeitaltern den unerschrockenen Außenhändlern der DDR vorbehalten. Heute heißen die rumänischen Autos ja Sandero oder Duster, und manchmal klettert Mehmet Scholl heraus, der Mehmet.

Nun aber Kindle. »Berliner Kindl« oder »Christkindl« ?

Der deutsche Muttersprachler jedenfalls, den die Namensfinder dieses Mal weniger berücksichtigten, assoziiert Niedliches, womöglich »in lockigem Haar« und kurzem Hemdchen. Inzwischen hat es sich natürlich herumgesprochen, dass dies nicht der Name einer digitalisierten Babypuppe ist, sondern der eines E-Book Readers, eines Geräts zum Lesen und Aufbewahren elektronischer Bücher.

Wer sich im Internet beim Größtversender Amazon ob nach schafwollener Socke oder nach Drittfernseher umsieht, sieht sich bald nebenbei, am Rande, an beiden Rändern, über dessen Eigenprodukt aufgeklärt. Wie, was, Sie haben noch keinen Kindle?

Wer aber endlich das Kindle, den Kindll (laut Oxford Dictionary English etwa so auszusprechen, nicht Keindell!) leibhaftig in Händen hält, 11,5 x 16,5 cm groß, 160 g schwer, hartplasten, schlachtschiffgrau, unten ein unansehnlicher Schaltrahmen flankiert von je zwei irgendwie abgewetzt wirkenden Hardwareknöpfchen, keine weitere Tastatur, der wird das Gerät allenfalls krass finden, jedoch keinesfalls »ach, wie süß«.

Amazon, raunt die Fama, musste sparen, um mit dem volkstümlichen Preis des Volks-Readers (99 Euro) wenigstens einigermaßen die Gestehungskosten zu decken. Wer weiß. A. muss uns sowieso nicht leid tun; es trifft keinen Armen, wie Volkes Mund sagt. Auch lässt der zunächst rätselhafte Name am Ende doch eine Gewinnstrategie erkennen, die schon aufgehen wird. Kindle, so lehrt der Blick ins englische Wörterbuch, bedeutet entzünden, entflammen. Entflammt, entzündet werden aber soll die Leselust, die allerdings den kleinen Umweg über die Kauflust zu nehmen hat.

Amazon wird demnächst eine Million Titel im hauseigenen Kindle-Format digitalisiert haben, die Zahl der Bücher in deutscher Sprache wird gegenwärtig mit 50 000 beziffert. Die Preise bewegen sich dezent in der Nähe des Niveaus gedruckter Bücher; Eugen Ruges »In Zeiten des abnehmenden Lichts« kostet 16,99 Euro, der neueste Hakon-Nesser-Krimi, den es vorerst im Buchhandel nur als gebundene Ausgabe gibt, propere 18,99, die Taschenbuch-Pendants des gleichen Autors 8,99; dazu läuft eine Vielzahl von Sonderangeboten, mehr oder weniger schnappigen Schnäppchen aller Art; auch Schrott wie Karl May mit fehlenden Kapiteln, Perry Rhodan komplett, umfangreiche Gedichtbände ohne jedes Inhaltsverzeichnis oder von irgendwelchen Leuten selbstverfasste Liebesromane zu 89 Cent zuhauf. Vollends gratis jedoch eine erfreuliche Zahl von urheberrechtsbefreiten Autoren wie etwa der ganze Fontane, Kafka, Fritz Reuter, Storm, Tucholsky, Twain, Turgenjew ...

Die sparsamsten Nutzer könnten am Ende auf solche Weise die Bibliothek mit der größten literaturgeschichtlichen Reputation im Kästchen haben. Oder den Schatten einer solchen Büchersammlung? Andererseits hinterlässt, wer womöglich in Jahrzehnten bis an die entlegenen Grenzen der Kapazität die aktuellen Bestseller anhäuft, im Fall der Fälle ein ganz neuartiges Erbstück auch von hohem finanziellen Wert. Oder den Schatten solchen Wertes?

Wobei man wissen sollte, dass nichts weiter verloren ist als derselbe, falls unser Kindle wegen Unachtsamkeit im Meer versinkt oder von einem Elefanten zertreten wird: Amazon bewahrt, ist sie erst einmal bezahlt, die gesamte Bibliothek »Meine Bibliothek« getreulich in der Wolke auf - im Himmel, könnten Atheisten sagen. Vermutlich bis zum Untergang dieses Sonnensytems bzw. bis zum Jüngsten Gericht.

»Duden Deutsches Universalwörterbuch« und »Oxford Dictionary of English« sind übrigens schon im Gerät installiert und können leicht intern zu Hilfe gerufen werden, wo schwierige Ausdrücke aufzuklären sind. Zitate lassen sich mühelos in ein eigenes Archiv laden und dauerhaft ablegen.

Der Zugang zum Gesamtangebot über Amazon und der Download eines Titels bis zum finalen Drag&Drop, nämlich vom Download-Ertrag auf den per USB angeschlossenen Kindle, der dann als zusätzliches Laufwerk bei Arbeitsplatz erscheint, erfordern eine ganze Menge Mausklicks, was aber gut erläutert wird und nach kurzer Gewöhnung tatsächlich sehr einfach ist.

Noch viel einfacher soll alles sein, wenn man sich über WLAN/WiFi in die Kindle/Amazon Gefilde, Internetcafes, Hotspots begibt. Davon wissen wir aber gar nicht Bescheid, wir betreiben Kindle schließlich in Arkadien zwischen Parchim und Crivitz, wo nicht nur die Grillen, sondern auch die Modems noch zirpen. Geht auch.

Rund 1200 Bücher könnte man statistisch gesehen auf die kleine elektronische Schiefertafel laden - womit die überaus beachtlichen inneren Werte berührt sind, die nach Außen hin zunächst mit dem fabelhaften Display in Erscheinung treten, sobald wir Kindle einschalten und eine der düsteren Graustufengrafiken, die gerade (stromverbrauchsfrei) Bildschirmdienst tut, sich lichtet: Rabenschwarze, laserscharfe Buchstaben wie aufgeklebt auf recyclingfarbenem Papiergrund, kein Flimmern, kein Flackern, keine wolkigen Stellen, kein Blickwinkelproblem, kein Problem bei Sonnenschein zu lesen - nämlich kein »Shadowphone«, wie Harald Martenstein im »Zeit-Magazin« die modernen Smartphones neulich spöttisch nannte. Dazu die Möglichkeit, Schriftgröße und -stil sowie Zeilenabstand und Durchschuss vielfach zu verändern.

Solche Tugenden haben den einen technisch unumgänglichen Preis: man kann den Kindle, im Kindle, auf dem Kindle keineswegs unter der Bettdecke lesen. Wie eine konventionelle Buchseite so erfordert auch die entsprechende E-Seite eine möglichst gute Beleuchtung von außen!

Was aber gleich wieder zum Vorteil gerät, weil der unzugänglich verbaute Akku auf die Weise ca. vier Wochen durchhält (Achtung, Grönlandreisende!), ehe er innerhalb von drei Stunden am USB von Notebook oder PC wieder aufgeladen ist. Strom verbraucht das Gerät nur beim Umblättern und Bearbeiten; man kann es einschalten, aber nicht wirklich ausschalten: man legt es einfach weg. Und wer es nach Stunden, Tagen, Wochen wieder in Betrieb nimmt, landet selbstredend genau dort, wo er vormals die Lektüre unterbrochen hatte.

Im Zubehörhandel gibt es für pessimistische Leser, die sich für länger als einen Monat von jeglichem USB getrennt wähnen, auch Steckdosenladegeräte.

Nützlicher sind vielleicht die dünnledernen Klappmappen, die den Kindle etwa in unordentlich geschichtetem Gepäck vor Ungemach bewahren und im aufgeschlagenen Zustand viel vom guten alten Buchgefühl vermitteln können. Darin steckt dann der Reader, als sei er so auf die Welt gekommen. Wie die Schildkröte im Panzer. Ärgerlich stimmt allerdings der horrende Preis solcher Hüllen, der leicht einmal mehr als 30 % des Gerätepreises erreicht. In Erinnerung an einen gewesenen Bundespräsidenten möchte man ausrufen: Nicht alles, was recht ist, ist auch billig.

Gottlob schickt Amazon sein Hightech-Produkt zusammen mit einem kleinen kostenlosen Wunderwerk aus einer etwas älteren Branche auf die Reise. Kindle kommt in einem schlanken hochfesten Karton, der einerseits offenbar drastischen Belastungen (unterhalb Elefant) gewachsen ist, andererseits buchstäblich und ungelogen am eingelassenen Reißstreifen mit nichts als Daumen und Zeigefinger nahezu zerstörungsfrei geöffnet werden kann. Lovely !

Auf der Unterseite prangt ein Siegel, berechtigt wie man selten eines sah: CERTIFIED FRUSTRATIONFREE PACKAGING.

Daneben aber, Achtung, Achtung, Uwaga, Wnimanije, Himmelswillen, unscheinbarster Aufkleber, in kleinster Schrift der 16-stellige (!) Code, mit dem allein wir abseits von allen Hotspots den Kindle und unseren PC miteinander bekannt machen können! Wer seinen Karton unachtsam in die Blaue Tonne getan hat, sollte schleunigst danach tauchen.

Unseren jedenfalls finden wir leicht in der ehemaligen Lücke zwischen Alfred Wellms »Pause für Wanzka« und Johannes Bobrowskis »Levins Mühle« wieder, wo er, hochkant aufgestellt nunmehr, als ein weiterer Buchrücken durchgehen kann, als das Buch Kindle.

Vielleicht ist solche Platzzuweisung geeignet, jene Bücherfreunde freundlicher zu stimmen, die mit zunehmendem Stirnrunzeln argwöhnen, hier solle ihnen das Ende des gedruckten Buches angedient, der Beginn einer neuen Ära angedroht werden. Nichts liegt uns ferner. Wir denken uns den Kindle (und seine ähnlich gearteten Konkurrenten) lieber erst einmal als Ergänzung, Begleitung, Assistenz. Und für den frühen Urlaub auf Nordstrand vor Husum nehmen wir uns vor, ohne das Gepäck zu belasten, endlich wieder einmal die Novellen und Gedichte von Theodor Storm zu lesen. Im Falle extrem schlechten Wetters aber wäre da auch noch »Der Stechlin« zur Hand. Drei Bände Ross Thomas' Geheimtipp ) sowieso. Und für das Enkelkind »Max und Moritz», dessen Illustrationen wie eigens geschaffen für die Kindle-Oberfläche das Aug erfreuen.

Uwe Kant: geboren am 18. Mai 1936 in Hamburg, studierte in Rostock und Berlin Germanistik und Geschichte, arbeitete als Lehrer und ist seit 1967 freiberuflicher Schriftsteller. Uwe Kant wurde in der DDR vornehmlich durch zahlreiche, in mehrere Sprachen übersetzte Kinderbücher bekannt, darunter »Das Klassenfest« (1969), »Die liebe lange Woche« (1971), »Der kleine Zauberer und die große 5« (1974, unlängst wieder aufgelegt vom LeiV Verlag Leipzig), »Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk« (1980), Alfred und die stärkste Urgroßmutter der Welt« (1987). Eine überaus beeindruckende Geschichte gelang ihm mit »Heinrich verkauft Friedrich« (1993, man hofft, dass sie bald wieder auf den Buchmarkt käme). Außerdem verfasste er Hörspiele und Bücher für Erwachsene, wie »Mit Dank zurück« (2000). Uwe Kant lebt in Neu Ruthenbeck, Mecklenburg-Vorpommern.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal