Die »vier U«

Nachdenken über eine zeitgemäße Erzählung der Linken

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 6 Min.
In dieser Artikelserie wollen Rosa-Luxemburg-Stiftung und »neues deutschland« reale Alternativen bewusst machen, wie sie in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, bei Bürgerprotesten und Occupy, in linken Gruppen und der Partei DIE LINKE diskutiert und praktiziert werden. Zur Beteiligung an der Debatte laden wir ein.

Die jüngste kapitalistische Mehrfachkrise hat die Erzählung vom Markt als großem Problemlöser tief erschüttert. Aber die europäische Linke ihrerseits hat kein überzeugendes eigenes Gesellschaftsprojekt einbringen können: Wer soll wie solidarische Auswege durchsetzen können?

Eine Erzählung, die diese Frage beantwortet, ist ein dringliches Gebot für die Linke. Es geht um eine Alternative, die von Vielen mit ihren jeweils eigenen Erzählungen von ihren Problemen und Träumen verbunden werden kann. Während einzelne alternative Projekte für sich genommen leicht einem besseren Funktionieren der alten Verhältnisse einverleibt werden könnten, gilt dies nicht für eine Gesamtbewegung, die von einem gemeinsamen Ansatz, einer gemeinsamen Erzählung getragen wird. »Ohne Erzählung ist jeder Kampf verloren.« So formuliert es die chinesische Autorengruppe Wu Ming.

Was aber wäre der Kern einer solchen Erzählung? Zunächst geht es um das Ziel, die Vision: Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden in Einklang mit der universellen Erhaltung der Natur anstelle höchstmöglichen Profits - das könnte als der archimedische Punkt einer gerechten solidarischen Gesellschaft, eines demokratischen und grünen Sozialismus, und des Weges dahin betrachtet werden.

Vier Kapitel einer zeitgemäßen Erzählung der Linken ließen sich aufschlagen:

Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht

Sozialökologischer Umbau

Demokratische Umgestaltung der Gesellschaft

Umfassende Friedenssicherung und internationale Solidarität

Eine vierfache Umkehr, »vier U«, werden nach dieser Vorstellung eine bessere Gesellschaft und die Wege zu ihr bestimmen und sind zugleich verbindende Anforderungen an jedes einzelne alternative Vorhaben.

Kapitel 1: Gerechte Umverteilung von Lebenschancen und Macht

Freiheit bleibt vorwiegend die Freiheit der Mächtigen und Reichen, wenn nicht soziale Gleichheit an den Bedingungen individueller Freiheit für alle durchgesetzt wird. Deshalb steht Umverteilung am Anfang.

Aus der Sicht von Armen und prekär Beschäftigten, von Hartz IV-Beschäftigten, Minijobbern, Leih- und ZeitarbeiterInnen, vom Standpunkt Hunderter Millionen Menschen auf der Erde, die heute nicht wissen, wie sie morgen ihren Hunger stillen können, in der Not der Millionen, deren Kinder in den armen Ländern an längst heilbaren Krankheiten sterben oder Kriegen zum Opfer fallen, aus der Sicht von unten also ist eine Umverteilung von Lebenschancen ihr erstes Überlebensproblem.

Diese Erzählung der Linken hat eine eigene Brisanz. Denn sie handelt davon, dass Umverteilung von Lebenschancen auch die Umverteilung von Macht, Eigentum und Verfügung erfordert. Das betrifft besonders die Macht der Banken und Investmentfonds, die Energiekonzerne und eine entschiedene Ausweitung von öffentlichem Eigentum, vor allem aber der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und es geht um eine andere Verteilung von Lebenszeit. Durch eine moderne linke Erzählung zieht sich die Idee von der »Vier-in-einem-Perspektive« (Frigga Haug). Davon nämlich, dass für Männer und Frauen verkürzte Erwerbsarbeit, Sorge-Arbeit, gesellschaftliches Engagement und Zeit für Muße zu etwa gleichen Teilen die Zeit einer neuen Lebensweise strukturieren könnten.

Kapitel 2: Sozialökologischer Umbau

Sozialökologische Transformation, Umkehr im Verhältnis der Gesellschaft zur Natur - das ist die zweite Leitidee einer modernen Erzählung der gesellschaftlichen Linken. Denn Umverteilung muss in Umgestaltung münden und umgekehrt.

Eine zeitgemäße linke Erzählung beschreibt eine doppelte Befreiung: die Befreiung der Menschen von kapitalistischer und patriarchaler, von ethnisch, rassistisch und geopolitisch begründeter Herrschaft und gleichzeitig die Befreiung der Natur von der martialischen Herrschaft der Menschen über sie. Dies ist der Kern einer sozialökologischen Umgestaltung.

Eine Erzählung der Linken für das 21. Jahrhundert muss die Perspektive einer Gesellschaft eröffnen, die ein besseres Leben auch ohne herkömmliches, auf den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts fixiertes und die Umwelt zerstörendes Wachstum ermöglicht. Gerechtigkeit ohne Wachstum wird allerdings eine geradezu radikale Umverteilung von Reichtum erfordern. Ein Komplex schwierigster Anforderungen ist entstanden.

Doch zum Glück tut sich in der gegenwärtigen Scheidewegsituation für einen historisch kurzen Moment eine Chance auf. Für einen Zwischenzeitraum nämlich könnte ein Schub umwelttechnologischer Investitionen ein neues Wachstum erlauben, das kraft der Zuwendung zu erneuerbaren Energien und Effizienztechnologien bedeutend umweltverträglicher als bisher verläuft und neue Arbeitsplätze schafft, während andere der Konversion unterliegen. Der Um- und Rückbau als Motor einer neuen Dynamik. In dieser Phase des Ganz-Anders-Wachsens vor dem Übergang zu nachhaltiger Entwicklung muss die Ökokonjunktur der aufsteigenden grünen Branchen und humanorientierten Dienstleistungen konsequent für den Rückbau der die Umwelt zerstörenden Bereiche und den Einstieg in nachhaltige Lebensweisen genutzt werden. Und die Linke muss dieses Kapitel mit großen Buchstaben in ihre eigene Erzählung einschreiben und sich in ihrer Wirtschaftspolitik aktiv dem gleichermaßen sozialen wie ökologischen Strukturwandel zuwenden.

Kapitel 3: Demokratische Umgestaltung

Eine Erzählung lebt von den Handelnden, die die Handlung vorantreiben. Eine partizipative Erneuerung der Demokratie und eine Ausweitung der Demokratie auf die von ihr bisher kaum berührte Wirtschaft ist die dritte Dimension einer Erzählung der Linken auf der Höhe der Aufgaben in den kommenden Jahrzehnten.

Das Schlüsselwort zur Durchbrechung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse heißt Empowerment - Selbstermächtigung. Was aber ist der Schlüssel zur Selbstermächtigung?

Das ist die Selbsterfahrung der Vielen, die bereits gegenwärtig in vielfältigen Formen und Projekten ändern, was nicht gut für sie ist. Das ist die Motivierung durch gemeinsames Handeln und der Ansporn durch soziale Bewegungen. Und wenn die alte Linke eine neue werden will, muss sie begreifen, dass insbesondere junge Menschen sich über die Kommunikation mit anderen im Internet zu eigenem Handeln aufmachen. Empowerment wird ermutigt und emotional erleichtert, wenn Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen oder Parteien einen solchen Umgang miteinander pflegen, dass bereits heute die Kultur einer besseren Gesellschaft aufscheint. Zwischenmenschlichkeit ist ein großes Thema für eine Erzählung der gesellschaftlichen Linken - und fordert ihr eigene Veränderung ab.

Kapitel 4: Umfassende Friedenspolitik und internationale Solidarität

Eine sozialökologische Transformation ist nur als globaler Prozess zu denken.. Der Klimawandel kennt keine Grenzen. Verursacht vor allem durch Industrieländer trifft er die Armen im sogenannten Süden besonders hart. Armut gebiert häufig Gewalt. Geostrategische Interessen imperialer Mächte an militärischer Sicherung des Zugangs zu Wirtschaftsressourcen gehören zu den Ursachen von Kriegen, die viele Länder der Erde in Staatenzerfall und tiefes Elend der Bevölkerung treiben. Dagegen sind immer wieder neue Anläufe globaler sozialer Bewegungen notwendig, neue Anstrengungen internationaler gewerkschaftlicher Zusammenarbeit, Vernetzung linker Parteien, Stärkung des Einflusses internationaler Wissenschaftlervereinigungen und der Einschluss internationaler Verpflichtungen in die Kämpfe nationaler Akteure. Ganz neue Dimensionen internationaler Solidarität sind gefordert. Dass Waffenexporte zu verbieten sind, versteht sich von selbst. Krieg ist als Mittel der Politik zu ächten. Eine gemeinsame und komplexe Sicherheitspolitik, in der ökonomische, soziale und ökologische Entwicklungspolitik, präventive Bearbeitung von Konflikten, Dialog, Rüstungskontrolle und Abrüstung Kriege zurückdrängen, gehört zum Hauptinhalt eines emanzipatorischen Transformationsprozesses und einer linken Erzählung von ihm.

Wenn es gelingt, diese vierfache Umkehr einzuleiten, dann würde aus der Krise des Kapitalismus der Einstieg in eine solidarische Gesellschaft werden.

Prof. Dr. Dieter Klein, geb. 1931, ist Ökonom und Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung

http://alternativen.blog.rosalux.de

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