nd-aktuell.de / 26.05.2012 / Kultur / Seite 25

Gespräche ... zaunüberwärts

Zwischen Versunkenheit und Einlassung - Wulf Kirstens Gedichte »fliehende ansicht«

Hans-Dieter Schütt

Meisterliche Gedichte machen den Leser klanglich untertan. Martin Walser nennt lyrische Sprache eine »Imponiersprache«. Du kapitulierst. Vor einer Fülle, die mit Abwesenheit zu tun hat: Was im Leben fehlt, vor allem Erschütterung, Aufmerksamkeit, das schafft Poesie herbei. Was man vermisst, das spürt man - und im guten Buch liest du's. Literatur bedeutet, dass man vom Nichthaben was hat. Den Schmerz, die Ahnung, die Feierlichkeit, die Farben. »fliehende ansicht«, wie der neue Gedichtband von Wulf Kirsten heißt, steht für die Zusammengehörigkeit von Bewegung und Bewahrung, vom Verflüchtigen und, da inmitten, dem Wunsch, sich trotz allem zu vergewissern.

Der Weimarer Dichter setzt die Gefrierpunktnähe eines Dezembersonntags in Beziehung zu anderen Kältegraden des modernen Daseins. Er preist Lippenblütler. Er denkt über all das nach, was von der Schwermut am Leben gehalten wird. Er singt eine lohende Hymne aufs »regenperlengefunkel« Ende April. Er schreibt auf Ettersberg-Wanderwegen den alten Wörtern »trübetimpelig« und »bedript« ein kleines Laut(denk)mal. Er sieht in verfehlten Wetterprognosen einen schönen Sieg der Elemente, die »blankweg verwerfen, was ihnen zugedacht«. Er porträtiert Sonderlinge, ruft die Dorfmenschen auf, die ihn in frühen Jahren geleiteten. Er beschwört »taglange schweifzüge waldhindurch/auf wildwechseln, moddrigen wegen,/ die keiner mehr geht«. Auch zeichnet er politische Autobiografik: »zwei diktaturen/ ohne zwischenraum/ selbstgenossen gezwungenermaßen,/ wenn auch überstanden/mit halbwegs heiler haut«. Das einstige geistige Klima: »denkfiguren zur strecke gebracht/ von zwangsbeglückern mit bedacht/ .../welt durch weltanschauung ersetzt/ von wortverdrehern die spottgeburten vernetzt«.

So kommt etwas zusammen. Das Großeganze. Das Vergangene. Wirkliche Empfindung. Ein Ton, der stimmt und zugleich wegrückt. Immer ist ja ein Ton da, wenn etwas aufhört, und Kirsten hat ein Lautohr für Verschwindendes, Gefährdetes. Was still wird, tönt. Man kann es hören, sich danach sehnen, das ist das eine, aber man muss es auch fassen können, das ist das andere, das ist Kirsten. Kelchrand, Horizontlinie, Erdgrund, Hasenfell, Weltordnung, Ulmengesträuch, Glockenturm, Kornelkirschengezweig, Ritterstege. Alles so nah, und alles so fern. Alles gleich wichtig. Klein und groß - wer lügt solche Unterschiede? Es gibt sie nicht. In diesen Gedichten hat die Gegend, die gemeint ist, ganz sich selbst. Und die Welt hat die Gegend. Mal ist die Gegend weiter als die Welt; mal ist die Gegend das, was Welt verhindert.

Rundum protzt Veränderung, Abschleifung, Zurichtung aufs übertragbare Maß - in diesen poetischen Stücken aber triumphiert eine schöne Treue jedes Wortes zum Störrischen, zum dörflich Vertrackten, zum Ungelenken, zum ermüdet Standhaften im neuwestdeutschen Gleichmacherstrom, der Landschaften zu Nutzflächen hinrichtet. Oder der das einst Bäuerliche, Volkseigentümliche, das provinziell, also belebt Gewachsene zur langen brachen Flur macht, »triste/ angelegenheiten langhin verzettelt«.

Kirstens Gedichte bilden keine rhythmische Bögen, das Ziel besteht nicht in metaphorischen Fügungen, eher obsiegt das Stakkato, das Wort steht gern als Solitär - als müsse etwas Ungeebnetes, Nachzüglerisches, Ausgedientes, etwas aus der Familie der Findlinge hingestellt werden, und da steht es nun, da steht das Wort wie der Mensch im »gespräch zaunüberwärts«.

Immer lebt Kirsten in treibender wie trauriger Zerrissenheit: Er ist der Dichter des Beiseitegehens, des Straßenrandständigen, des Unscheinbaren, er ist »landschreiter«, ein verweigerungsfroher Taugenichts, er hat innigen Sinn für Bescheidung, »geschuldet kleinen verhältnissen«, und zweifelsfrei ist er ein herzfrohes Mitglied in der Gemeinde der einzeln Abirrenden - ja, jene einsamen Dichter, jene Unauffindbaren im Gestöber, die Meidbewegungsmeister, sie sind seine Dichter. Andererseits aber sieht sich Kirsten, so sagen es uns seine Gedichte, auch als Hineingezogener, »unvermutet eingekeilt von zeitgenossen«. Er kann Welt nicht sehen, ohne über den eigenen Sinn in ihr nachzudenken, verurteilt »zu spüren bei lichtschmerz/ über abgründe hinweg, wie der grund bebt,/ auf den uns aberwitzige fügungen oder/ zufälle gestellt.«

Unbeantwortet bleibt ihm die Frage, »was denn/ das eigentliche so recht eigentlich sei«. Aber entwinden kann er sich dieser Frage - wach und weh sinnend zwischen Stadt und Land, zwischen Natur und Kultur, zwischen Fühlung und Fremdheit, zwischen Ausscheren und Einmischung - nie und nimmer.

Wulf Kirsten: fliehende ansicht. Gedichte. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main. 80. S., geb. 16,99 Euro.