Wenn aller Glanz verblasst: Kreml in Krise

Noch folgen die Massen Putin - bis sie eine Alternative sehen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 2 Min.
Die politische Krise in Russland sei zu voller Größe angewachsen und unumkehrbar, heißt es in einer Analyse des Zentrums für strategische Studien.

Der Thinktank untersteht der russischen Regierung. In Auftrag gegeben hatte das Papier Ex-Finanzminister Alexej Kudrin. Dessen Komitee zur Unterstützung von Initiativen der Zivilgesellschaft versucht seit den Massenprotesten wegen Wahlmanipulationen im Winter Vertreter der Macht und der liberalen außerparlamentarischen Opposition zum Dialog zu bewegen. Kudrin ist mit Putin befreundet und gilt, obwohl derzeit ohne Staatsamt, als einflussreich. Er wird sogar als möglicher Nachfolger von Premier Dmitri Medwedjew gehandelt, dessen Verweildauer im Amt Experten als gering veranschlagen.

Zu gleichen Schlussfolgerungen kommt auch das von Kudrin in Auftrag gegebene Papier, aus dem die Wirtschaftszeitung »Wedomosti« jetzt zitierte. Demzufolge hat der Kreml Medwedjew die Rolle eines Bauernopfers angesichts der erneut auf Touren kommenden Krise zugedacht.

Gemeint sind nicht nur die Auswirkungen der Probleme in der Eurozone auf Russland als deren wichtigstem Außenhandelspartner. Die Macht, heißt es in dem Gutachten, habe das Vertrauen der Massen verloren und laufe dadurch Gefahr, die Kontrolle über das Land zu verlieren. Dass die Zustimmungsraten für Präsident Wladimir Putin und dessen Hausmacht Einiges Russland im Wahlkampf wieder anzogen, sei eine vorübergehende Erscheinung. Die scheinbare Loyalität der Massen erkläre sich dadurch, dass viele Wähler bisher keine glaubwürdige Alternative zu Putin sehen. Der Akzent liegt auf »bisher«.

Die Proteste, so die Soziologen, die sich bei der Studie auf Umfragen stützten, würden zwar im Sommer weiter abebben. Im Herbst indes, wenn die Wohnnebenkosten steigen und noch mehr Leistungen in Bildungs- und Gesundheitswesen kostenpflichtig werden, würden sie erneut an Fahrt gewinnen. Ihr Zentrum werde sich aus Moskau in die Provinz verlagern, von dort kämen wohl auch jene mehrheitsfähigen und charismatischen Führer, die der Opposition bisher fehlen.

Oppositionelle Berufspolitiker werden wegen einstiger Nähe zum Regime von der Basis der Protestbewegung in Moskau misstrauisch beäugt. Auch Kudrin selbst, der es mit der Gründung einer eigenen liberalen Partei daher nicht eilig hat. Die jungen Quereinsteiger wie der kritische Blogger Alexej Nawalny, denen virtuelle Netzwerke spontan eine Führungsrolle überhalfen, stehen inzwischen ebenfalls in der Kritik: Sie hätten durch taktische Fehler die historische Chance auf eine samtene Revolution vergeigt. Die Autoren des Gutachtens werfen ihnen zudem vor, unterschätzt zu haben, dass die Massen traditionell den Konflikt mit der Macht scheuen.

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