nd-aktuell.de / 08.06.2012 / Wissen / Seite 14

Niemand wird zurückgelassen

Inklusion ist mehr als nur ein Behindertenrecht

Brigitte Schumann

»Niemand wird zurückgelassen« - so lautet der Titel des denkwürdigen Buches von Rainer Domisch und Anne Klein. Erschienen ist es Anfang des Jahres. Durch den Tod von Rainer Domisch im August 2011 ist diese Veröffentlichung all denen, die ihn kannten und schätzten, zu seinem Vermächtnis geworden. Aber das Buch ist mehr. Rainer Domisch arbeitete lange Jahre im finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen und war unmittelbar an der finnischen Bildungsreform beteiligt, die zur Abschaffung des gegliederten Schulsystems führte. Aufgrund des außerordentlichen deutschen Interesses an dem PISA-Sieger Finnland fiel ihm vor zehn Jahren die Rolle des »Botschafters« für das finnische Bildungssystem in Deutschland zu.

Das Buch ist weitaus mehr als eine Beschreibung des finnischen Schulmodells für eine breite deutsche Leserschaft. Es gibt auch Einblick in das Menschen- und Gesellschaftsbild, das sich untrennbar mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule verbindet. Darüber hinaus dient der gezielte politische Vergleich zwischen Finnland und Deutschland den Autoren als kritische Auseinandersetzung mit der PISA-Rezeption der deutschen Bildungspolitik. Sie belegen, dass die deutsche Bildungspolitik mit ihrer ideologischen und interessengeleiteten Verhaftung die dringend notwendige Neuausrichtung für eine umfassende demokratische Strukturreform bis heute blockiert.

Das Buch wird eingeleitet mit »Sieben Thesen für eine adäquate Bildungspolitik«. Nach Überzeugung der Autoren gründet diese auf dem Bewusstsein eines demokratisch verfassten Rechts auf Bildung. Sie ist auf Partizipation und Transparenz angelegt und hat als obersten Gesichtspunkt soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Sie ist der Inklusion als umfassendes Menschenrecht ebenso verpflichtet wie der Öffnung zur Transkulturalität und nicht zuletzt hat sie Bildung als öffentliches Gut angemessen auszustatten. Die deutsche Realität erscheint dazu in einem scharfen Kontrast.

Angereichert werden die bildungspolitischen Analysen und Reflexionen durch anekdotische Erzählpassagen. Rainer Domisch erinnert sich z.B., wie deutsche Kultusminister und Schulpolitiker nach Helsinki pilgerten, um das Geheimnis des finnischen Erfolgs zu ergründen. Mit der finnischen Schulrealität konfrontiert, wollen sie jedoch die Schlüsselrolle der inklusiven Schulstruktur für den finnischen Schulerfolg nicht wahrhaben. Man kehrt nach Deutschland zurück, ohne etwas gelernt zu haben. Rainer Domisch erfährt, dass Verantwortliche bereit sind zu Reformen, »aber nur, wenn damit die hierarchische Gliederung des Schulsystems nicht angetastet wird«. Er unterstreicht mit seinen persönlichen Erlebnissen den zentralen Befund, dass es in Deutschland keine erwachsene Reaktion auf die PISA-Ergebnisse gegeben hat. Eine solche Reaktion, so die Autoren, »wäre die Entscheidung für eine politische Analyse, verbunden mit dem Eingeständnis eigener Versäumnisse und der Bereitschaft von anderen Modellen zu lernen.«

Die Bedeutung der Schulstruktur für Gerechtigkeit und Chancengleichheit wird an der Geschichte der finnischen Strukturreform in den ausgehenden 1960er und den 1970er Jahren nachgezeichnet. Die Erkenntnis, dass sich die soziale Ungleichheit maßgeblich auf den Schulerfolg auswirkt, hatte damals finnische Politiker auch gegen gesellschaftliche Widerstände dazu bewogen, die sozial selektiven Strukturen zugunsten einer Schule für alle aufzugeben. Damit wurde damals auch schon das Fundament für Inklusion gelegt. Diese Grundentscheidung für ein demokratisches Schulsystem gilt heute als unumstößlich und wird von niemandem in Frage gestellt. All denen, die immer noch in Deutschland vollmundig behaupten, der Schulerfolg hinge letztlich von der Qualität des Unterrichts ab, halten Domisch und Klein das finnische Modell entgegen.

Gutes Lernen ist gebunden an eine Struktur, die sich der Selektion der Kinder nach Leistung, sozialer Herkunft, ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, Behinderung und anderer individueller Merkmale verweigert und gleiche Chancen für alle sichern will. Sie spiegelt sich konsequent in der schülerfreundlichen Haltung und Einstellung der finnischen Lehrerinnen und Lehrer und in dem Unterstützungssystem für die Schülerinnen und Schüler an den Schulen wider. Finnische Pädagogen haben Vertrauen in die Potenziale aller Kinder und fördern diese individuell und im sozialen Miteinander. Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden und der Schülerinnen und Schüler untereinander zählen, nicht ausgeklügelte Lernmethoden oder eine Diagnostik, die sich auf Defizite fokussiert und Festschreibungen vornimmt. »Das System basiert auf Transparenz und Vertrauen, auf Förderung und Entwicklung und nicht auf Leistungsdruck. Jedenfalls muss sich niemand unsicher oder bedroht fühlen. Aus dem System herauszufallen oder einfach nur herabgestuft oder abgehängt zu werden, ist nahezu unmöglich.«

Anerkennungsdefizite deutscher Schülerinnen und Schüler sind dagegen systembedingt. »Für die Sonder- und Hauptschüler markiert die Schulzuweisung auch öffentlich den Beginn einer Stigmatisierung, während sich die Kinder auf dem Gymnasium als privilegiert fühlen dürfen, aber viele doch auch mit Leistungs- und Erfolgsdruck zu kämpfen haben. Von den einen erwartet man oft gar nichts mehr, von den anderen zu viel oder das falsche.«

Die Evaluation zur Qualitätssicherung des Schulsystems hat in Deutschland erst nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler bei PISA richtig Einzug gehalten. Zentrale Vergleichsarbeiten, Tests, zentrale Abschlussprüfungen, Zentralabitur, Qualitätsanalyse, Bildungsstandards markieren als Begrifflichkeiten die empirische, am messbaren Output orientierte Wende in Deutschland.

Eine »finnische Reaktion« ist das nicht. Die Leser des Buches von Domisch und Klein erfahren, dass die Evaluation in Finnland schon 1994, also völlig unabhängig von PISA, eingeführt wurde. Mit ihrer Einführung wurde allerdings die Schulinspektion abgeschafft. Die Evaluation ist eben aus finnischer Sicht kein Instrument des Wettbewerbs, des Rankings, der Kontrolle. Man will wissen, was die Bildungsplanung im Interesse der Schülerinnen und Schüler verbessern muss. Zum Beispiel wird durch jährliche Schülerbefragungen ermittelt, wie das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen in den Schulen ist. Auch das ist Inklusion!

Rainer Domisch, Anne Klein: Niemand wird zurückgelassen, Hanser-Verlag, München 2012, 237 S., 16, 90 €.

[1]

Links:

  1. http://www.neues-deutschland/Inklusion
  2. http://www.neues-deutschland/Inklusion