nd-aktuell.de / 15.06.2012 / Sport / Seite 19

Little Sweden auf Truchanow

Aus Skandinavien kamen die meisten Fans zur EM - ihr eigenes Camp im Gepäck

Ronny Blaschke, Kiew
Auf der beliebten Truchanow-Insel inmitten Kiews erlebt derzeit eine Turniertradition ihre Fortsetzung: das Schweden-Camp. 6000 Fans leben in dem Wohnwagendorf mit eigenem Freizeitkalender. Die Kiewer wünschen sich sogar, dass die netten Schweden bis zum Finale bleiben.

Janne Wallin führt seinen rechten Zeigefinger über eine Holztafel und erklärt den neuesten Bezirk der ukrainischen Hauptstadt. »Wir haben an alles gedacht«, sagt Wallin, ein Mann von mächtiger Statur mit Händen wie Schaufeln. Er deutet auf Restaurants, Apotheken, die Polizeistation, die Ambulanz. Hinter ihm ziehen junge Männer mit Rucksäcken und Liegematten vorbei, sie tragen gelbe Trikots mit blauen Streifen, wie fast alle in der Umgebung. »Die EM ist viel schöner, wenn man auch die Zeit zwischen den Spielen zusammen verbringt«, sagt Wallin. Normalerweise arbeitet er in einem Kindergarten in Malmö, zurzeit wohnt er auf der beliebten Insel Truchanow, gelegen im Dnepr, dem drittlängsten Fluss Europas. Wallin ist eine Art Bürgermeister von Little Sweden.

Sollte die Auswahl Schwedens nach dem 1:2 gegen die Ukraine auch heute gegen England verlieren: die Skandinavier wären wahrscheinlich in der Vorrunde gescheitert. Doch in einem Bereich stehen sie an der Spitze: Kein Team wird bei großen Turnieren von so vielen Fans begleitet. Rund 20 000 bevölkern derzeit das Stadion und die Fanmeilen von Kiew, dem Austragungsort der drei Vorrundenspiele Schwedens. 6000 haben sich auf Truchanow einquartiert, sie folgen einer Tradition bei großen Turnieren: Schweden-Camps hatte es schon 2004 in Lissabon, 2006 in Hamburg und 2010 in Innsbruck gegeben.

Auf dem Stellplatz für Wohnwagen, umgeben von Kiefernwald, rostigen Zäunen und Spanplatten, kämpft sich Daniel Gustafsson durch Decken, Taschen und Bierdosen in seinem blauen Kleinbus. »Wir sind acht Jugendfreunde und wollen gemeinsam unseren Urlaub verbringen, das ist der einzige Grund, warum ich diesen Bus gekauft habe«, sagt der Klempner aus Göteborg. Mehr als 2000 Kilometer haben sie bis Kiew zurückgelegt. Gustafsson schimpft eine Weile über die Vorbereitungen der Ukrainer. Anfangs hatte es an seinem Platz weder Wasser noch Strom gegeben, die Toiletten seien dreckig, die Duschen zu weit entfernt. Doch dann setzt sich ein Lächeln durch, seine Freunde scherzen, drehen die Musik lauter, sie lassen sich ihre Reisekultur nicht verderben.

Nachdem die Vorrundengruppen im Dezember ausgelost worden waren, reisten Fanbetreuer aus Stockholm nach Kiew, im Gepäck Empfehlungsschreiben von schwedischen Politikern oder des Innsbrucker Bürgermeisters. Sie besuchten Areale, verhandelten mit Behörden, entschieden sich für die Truchanow-Insel. 26 ehrenamtliche Helfer sind nun aus Schweden angereist, Dutzende Ukrainer arbeiten in Bars, Geschäften, in einem Reisebüro, auch mit dabei: 130 Polizisten und Sicherheitskräfte. Das Freizeitangebot des Schweden-Camps bewegt sich zwischen Stand-up Comedy, Torwandschießen, Karaoke und Konzerten. Nur das Angebot einer ukrainischen Agentur, auf der Insel mit einem Militärfahrzeug rumzufahren, findet kaum Anklang.

Kate Syvkova steht an der Rezeption des Camps, einem blauen Zelt, zwischen den Baumreihen zeichnet sich die Skyline Kiews ab. Syvkova ist 20 Jahre alt und studiert Englisch und Schwedisch, sie will den EM-Touristen mit praktischen Hinweisen helfen, sie möchte aber auch etwas über das Land erfahren, in dem sie nächsten Sommer ein Praktikum bestreitet. »Ich möchte Schwedisch-Lehrerin werden«, sagt Syvkova. »Dieser Austausch bei der EM kommt uns allen zu Gute«.

Anfang der Woche verwandelte ein heftiger Regen das Camp in ein Sumpfgebiet. Schnell verabredeten sich ukrainische Studenten in den sozialen Netzwerken und boten ihre Hilfe an. Sie hätten nichts dagegen, wenn Little Sweden bis zum Endspiel geöffnet bliebe.