Ich weiß, dass ich nichts weiß

Der Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin stellte eine neue Schülerbefragung vor

Was wissen Jugendliche hierzulande über die Zeitgeschichte, speziell über die Nazi-Zeit, die alte Bundesrepublik, die DDR und das wiedervereinigte Deutschland? Dies wollten mal wieder Historiker wissen. Gestern stellten sie der Presse ihre Studie vor.

Ja, man hatte auch Spaß, gestand Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin gegenüber »nd«. In der Tat wären einige Fragen und Antworten qualifiziert für Jauchs Quiz-Show »Wer wird Millionär?«. Etwa wenn Otto von Bismarck auch als Erfinder des Otto-Motors angekreuzt werden konnte. Doch nicht aus Spaß hat das Team um Schroeder die Befragung durchgeführt, sondern aus Frust.

Aus Frust über die geballte Kritik von Kollegen und Öffentlichkeit an ihrer Erhebung 2007/08. Berlin und Brandenburg hatten deshalb wohl diesmal auch keine Lust mitzumachen. An der von Schroeder »repräsentativ« genannten neuen Umfrage beteiligten sich fünf Bundesländer (von 16): Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Thüringen. 7000 Schüler füllten Fragebögen aus. In der Auswertung wurden sie nach Kindern mit DDR-, Alt-BRD- oder Migrantenhintergrund sowie nach Schulart sortiert. Es verwundert nicht, dass Gymnasiasten im Faktenwissen besser abschneiden als Hauptschüler. Erstaunt ist Schroeder über die Unfähigkeit, zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden zu können: Nur die Hälfte der Schüler ordnet den NS-Staat zweifelsfrei als Diktatur ein, die DDR lediglich ein Drittel. Ebenfalls nur die Hälfte wertet die alte BRD als demokratischen Staat, 60 Prozent definieren das wiedervereinigte Deutschland als einen solchen. Jugendliche aus DDR- und Migrantenfamilien würden die DDR und das Hitlerregime positiver als Altersgefährten aus der Alt-BRD ansehen. Warum dies so ist, verriet Schröder gestern nicht. Vielleicht findet sich die Begründung in der Buchform der Studie: »Später Sieg der Diktaturen?« (Peter Lang, 607 S., geb., 39,80 €).

Ostdeutsche Schüler wissen laut Umfrage mehr als westdeutsche. Am geringsten sind die historischen Kenntnisse in Nordrhein-Westfalen. Schockierend ist die Vermutung Schroeders, die Ergebnisse der Schülerbefragung würden sich in etwa mit dem Geschichtswissen der Gesamtbevölkerung decken. Mit dem Begriff »Deutscher Herbst« z. B. identifizieren 46,1 Prozent der befragten Jugendlichen die Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer 1989.

Es durfte nur eine Antwort angekreuzt werden, was »nd« problematisch etwa bezüglich des Mauerbaus erscheint, waren doch die Akteure 1961 neben Ostberlin auch Moskau und Washington. Gewiss, »errichtet« und »verantwortet« sind keine identischen Vokabeln. Indes, wäre eventuelles Hintergrundwissen bei Schülern Sophisterei? Nun, vorsokratischer Schule entstammen die Befragten definitiv nicht. Wenn man Schroeder glaubt, dass viele Probanden einräumten zu wissen, dass sie nichts wissen, würde man sie eher weise Epigonen des philosophierenden Steinmetz aus Attika nennen wollen. Übrigens, wissen Sie, liebe Leser, die Antwort auf diese Frage des Forschungsverbundes: »Die Politik Angela Merkels stellt a) einen Verrat an ihrer ostdeutschen Herkunft dar, b) führt den DDR-Sozialismus in gemäßigter Form weiter, c) verwandelt das wiedervereinigte Deutschland nach und nach in eine unmenschliche Ellenbogengesellschaft oder d) stärkt den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft.« Ich weiß es nicht.

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