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Stunde der Schwärmer

»Utopisch denken« in den Sophiensaelen

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Das war vielleicht ein Schuss in den Ofen. Da stellen sich diese Künstler am Ende hin und tun so, als erwarteten sie, dass die Leute sich schnell aufraffen, die Welt zu verändern. Dabei hatte »Utopisch denken« geradezu gemütlich distanziert angefangen. Aber man kann diesen Theaterleuten eben nicht trauen.

Klug inszeniert ist die Stunde in den Sophiensaelen nach dem Konzept von Elisa Müller. Zusammen mit Corinne Maier, Veit Merkle und Frank Sievers tritt sie auf. Locker sportlich gekleidet wie an einem mäßig aktiven Samstagvormittag zu Hause. Es sei Zeit, sagen sie, sich über die Zukunft Gedanken zu machen und nutzen das Theater als Möglichkeitsraum. Aber nicht so viel Realität hereinlassen, wird gleich eingeworfen. Das würde ihn verstopfen. Also gehen die Meinungen flugs auseinander. Man nimmt abwechselnd - immer ans Publikum gewandt - Positionen ein. Radikal, versöhnlich, pragmatisch, alternativ und so einiges dazwischen. Jeder schwärmt für seine Visionen.

Die Müller*****-Produktion spielt rasant mit Gedanken und Vorstellungen. Es reicht nicht, die Zustände zu beklagen, man muss die Welt interpretieren. Was wäre wenn. Thesen werden aufgestellt, Antithesen erfunden, man deklamiert und postuliert. Dies oder jenes müsste doch funktionieren. Oder nicht? Ohne großartige Erklärungen führen die Schauspieler vor, welche körperliche Haltung man im Diskurs einnehmen kann. Zügig vorangehen, sich beugen, kriechen, stolpern, fallen und sich wieder hochrappeln. Die Spielfläche lässt genügend Platz dafür. Außer den vier Schauspielern und ein paar Utensilien stehen ja nur die Haltungen im Raum.

Man kann Dinge verändern, vieles in Frage stellen. Das ganze System. Oder erst einmal den Umgang mit Alltagsgegenständen. Muss man auf dem Stuhl sitzen wie es alle machen? Warum nicht anders herum? Man kann doch die Beine unter der Lehne durchstecken und die Arme auf der Stuhllehne ablegen. Warum muss der Wäscheständer stehen wie er steht? Dreht man ihn um, lässt sich auch ein T-Shirt draufhängen. Alles Mögliche probieren die Vier mit Haushaltsgegenständen aus. Und wenn sie erreicht haben, was sie wollten, gucken sie mit frechem Stolz zu den Zuschauern. Geht doch!

Einfach wie ulkig ist das gemacht als Karikatur dessen, was zu verändern ist, ohne großartiges Risiko. Mit den Thesen ist es ähnlich. Utopisch gedacht, könnte man beispielsweise das Wirtschaftswachstum abschaffen. Der Mensch brauche heute 2000 Kilokalorien, morgen und übermorgen. Warum muss immer mehr produziert werden? Autos beispielsweise gibt es schon schon zu viele. Pausenlos wird weggeschmissen, statt repariert. Muss man am Geld festhalten? Kann man nicht auf Ware gegen Ware im Vorwärtsgang zurückkommen? Psychotherapie für alle einrichten? Jeder reflektiert sich auf Deibel komm raus.

Na, kommt schon, was meint ihr? Die Utopisten suchten den Meinungsaustausch mit den Zuschauern. Siehe da, der Saal war voller Denker. Gemeinsam überlegte man, wie ein gesellschaftliches Modell für bedingungsloses Grundeinkommen aussehen könnte. Monatlich 3000 Euro für jeden. Utopisch schön. Aber wer soll das austüfteln? Soll sich vielleicht ab morgen einer der Künstler arbeitslos melden, um ein Jahr über das Konzept nachzudenken, kam von den Akteuren. Man kann auch bei der Arbeit denken, warf eine Zuschauerin ein. Gut pariert! Wahrscheinlich angestachelt von kleinbürgerlichem Besitzstreben startete dann ein Zuschauer aus der ersten Reihe den großen Rückzieher. Warum müsse utopisches Denken überhaupt auf Machbarkeit überprüft werden? Es sei doch im Kopf gut aufgehoben.

Bravo! Von da an ging's bergab. Ende der Diskussion. Noch kurze gedankliche Aufschäumer. Dann Schweigen und der besagte Na-macht-mal-Blick von den Schauspielern. Wieso wir? Was denken die denn, wen sie vor sich haben?

28., 29. Juni, 19.30 Uhr, Sophiensaele, Sophienstr. 18, Mitte, Tel.: (030) 283 52 66, www.sophiensaele.com

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