Das Spiel liebt zurück

Ein Blatt für Jürgen Klinsmann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wehret den Anfängen! Das ist die trefflichste Aufforderung, die das Leben ans Leben stellt. Aber selten wird sie wahr. Beim Fußball zum Beispiel gelten schon die ersten zehn Minuten als Arbeit, um ein späteres Elfmeterschießen zu verhindern. Doch sie verstreichen oft wie die nächsten achtzig auch - wir wehren den Anfängen der Katastrophe nicht entschieden genug, wir möchten gern an der falschen Stelle folgenlos bleiben.

Aber ins Diffuse, gar ins Vergessen rücken oft auch jene, die nicht nur wehren, sondern selber Anfänge setzen. Die Pioniere waren, also Setzer von Spuren, auf denen andere dann Erstbegeher werden. Abenteurer, Umwälzer, die spüren: Es ist Zeit für etwas Neues - und deren Zeit trotz allem nicht kommt. Eher kommen jene völlig Verkehrten, die frech behaupten, sie seien es gewesen, die eine Wende eingeleitet hätten.

Auf einem Foto vom Sommer 2006 streicht Bundestrainer Jürgen Klinsmann Philipp Lahm über den Kopf. Eine Ermunterung, eine Zukunftsgeste: »Das wird!« Das Foto erinnert an Anfänge dessen, was die deutsche Mannschaft nunmehr auszeichnet: Fast niemand spricht mehr von deutschen Tugenden, zu denen ein lokomotivisches Laufen, ja rennendes Hämmern gehörte, ein Durchsetzungsvermögen, versetzt mit drögem Druck.

Die Botschaft von Klinsmann lautete: Mentalitätswandel. Sie wurde unter der Regie von Joachim Löw, seinem damaligen Assistenten speziell für die noch unerfahrene Defensivtruppe, zur dynamischen Praxis. Auf dem Feld so jung sein, wie man ist. Ernsthaft bleiben, ohne verbissen zu werden. Laufen ja, aber nicht weit, sondern intensiv, mit sicherem Instinkt für die richtige Richtung. Handlungsschnelligkeit statt Walzwucht. Ergebnisfußball als Folge von Erlebnisfußball: Es ist schön, sich zu mausern, wenn die Welt zusieht - und eine stilvorbildliche Dynamik entdeckt.

Vielleicht gibt es außer Guardiola und Mourinho derzeit keinen anderen internationalen Trainer, der als Systembauer und -wechsler so deutlich erkennbar ist. Von der Außenlinie beständig Vertrauen schenken, so, als ginge es um nichts; dadurch entsteht Kraft, die nötig ist, wo es um alles geht. Löw wird immer weniger Jogi genannt, das sagt schon viel.

Dem Trainer Klinsmann gelang keine deutsche Ära, die bleibt (möglicherweise!) seinem einstigen Helfer vorbehalten, aber der blonde Schwabe schub kühn, trotzig, hierarchiesprengend an, was heute, beim schwarzhaarigen Schwaben, so überzeugt: Die Erben des deutschen Kampffußballs zeigen, dass sie das Spiel wieder lieben, und das Spiel liebt neugierig nach Deutschland zurück.

Nun also das Halbfinale. Das Anrennen gegen eine Scheidewand, die einen magischen Innenkreis von einem diffusen Außen trennte. Die letzten Vier - das war im Sport schon immer der Zirkel der wahrhaft Eingeweihten. Die den Code geknackt haben. Die jene entscheidende Grenze überwanden, hinter der selbst ein Ausscheiden eine ganz andere Größe bekommt. Vielleicht überhaupt erst Größe. Nur das Scheitern nah am Ziel (Portugal gegen Spanien schuf einen weiteren Verlierer) ruft den tragödischen Gedanken auf den Plan - der unter Umständen, wenn das Geschehen nur unglücklich genug war, mehr Gedächtnis schaffen kann als der Durchmarsch aufs Podest.

Deutschlands hoffentlichen Durchmarsch ausgenommen! Möge es heute ein Spiel werden, in dem die Italiener die geschickteren Beine haben dürfen, aber die Deutschen das Herz und mehr Geschick haben müssen, und hinter der Routine hochklassiger Taktik soll der Kampf lauter Gründungsakte des Dramatischen und Melodramatischen schaffen. Gegen den wilden Balotelli, den dracula-blickigen Buffon, den zarten Marchisio. Und gegen den alt-genialen Pirlo, der Pässe schießt, als schnitte ein Seziermesser, und der auf der Position des Abräumers stets so hochfahrend ankündigt: Hier beginnt die Offensive! (2006, bei der WM, schoss just er jenen Pass, den Grosso aufnahm und uns ins Halbfinal-Aus schickte.)

Man muss diesen Tag heute genießen! Denn wie schnell kann eine Hochstimmung verfliegen! Schon der nächste Tag ist einfach nur der nächste Tag. Das wissen alle. Aber lesen wir nicht Bücher, gehen wir nicht ins Theater, strömen wir nicht zu den Stadien, weil wir um diese Ernüchterung vorher und nachher wissen? Suchen wir nicht das Drama, weil es unserem Leben fehlt? Jede Euphorie nährt sich von der Gewissheit des Vorläufigen; jedes Erlebnis kerbt in den Zeitfluss etwas Einmaliges hinein, schafft wohltuende Realitätsfremdheit, ist Verdrängungszauber und Verschwendungsreiz. Die Zeit ist das Unendliche, Vielfache, Summarische, das immerfort über den Einzelnen hinwegrollt - was bleibt übrig, als diese Zeit in endliche Augenblicke zu gliedern? Zeit lässt nicht mit sich handeln, aber wir können sie verwandeln - in ein Gewebe aus betonten und unbetonten Momenten.

Jetzt ist den Fußball-Verfallenen ein sehr langer betonter Moment gegeben. Richard Wagners Wort von der Zeit, die hier zum Raum wird, darf getrost auf verbleibende Fußball-Abende hingedrechselt werden, an denen Deutschland, hoffentlich, noch zwei Mal, das eine nötige Tor mehr schießt. Jedes Spiel ist, obwohl es Spiel heißt, vor allem Arbeit. Denn mehr als Sekunden von Genialität kann man darstellender Kunst nicht abverlangen, der Rest möge gutes, bestes Handwerk sein. Oder Fußwerk. Bevor es dann, wenn der Vorhang gefallen ist oder das letzte Tor, bei uns weitergeht - mit einem mürben Hinüberächzen zum Alltag, mit den üblichen Unaufrichtigkeiten der Politik, mit der seelischen Bettelei um etwas Gnade im allgemeinen Verschleiß.

Wir wollen bis dahin ganz rasch noch einige Streifzüge machen durch spannende Verhältnisse. Ja, ganz rasch: neunzig Minuten nur, man möchte ja nicht unbescheiden werden. Verlängerung muss nicht sein, Elfmeterschießen schon gar nicht, jedenfalls nicht, wenn die eigene Mannschaft spielt. Denn: Torjäger im weiten grünen Vakuum sein zu müssen, das bleibt nach 120 Minuten nur noch ein welkes Begehren - gedrückt von der Wahrheit, dass Gemeinsamkeit, die bis hierher alles Mögliche im Spiel durchgemacht hat, nun umgemünzt wird in pure Einsamkeit.

Der Weg zum Europameister? Jürgen Klinsmann hat ihn seinem Helfer Löw aufgezeigt: »Kopf immer oben halten, Ball annehmen, passen, bum, bum.«

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