nd-aktuell.de / 28.06.2012 / Kultur / Seite 16

Eine Schabe namens Samsa

Augusto Monterroso und seine boshafte Bonsai-Prosa

Uwe Stolzmann

Wie lang muss ein Prosatext mindestens sein, um als Erzählung zu gelten? Anderthalb Seiten? Zweihundert Wörter oder lediglich dreißig? Im Mexiko der fünfziger Jahre entsteht eine Geschichte von nur sieben Wörtern, auf Deutsch hat sie neun: »Als er erwachte, war der Dinosaurier immer noch da.« Der winzige Text - er gilt lange als kürzeste Geschichte überhaupt - macht den Verfasser damals rasch populär: Augusto Monterroso (1921-2003). Kurz vor dem Lebensende wird der Dichter sagen: »Das ist ein Dinosaurier, der um die Welt reist und nie still ist. Viele Leute kennen mich nur wegen dieses Märchens. Ich glaube, es ist gut so, weniger ist manchmal mehr.«

Monterroso stammt aus Guatemala, ab 1944 lebt er in Mexiko-Stadt, als Diplomat, dann als Literaturprofessor. Menschen, die ihn besucht haben, beschreiben einen kleinen, höflichen, eher schüchternen Mann mit roten Wangen und Hang zur Ironie. Diese Ironie wird - neben der Knappheit - zu einem Markenzeichen seiner Prosa. Lateinamerika, das ist damals, vor einem halben Jahrhundert, der Hort des magischen Realismus, Nährboden einer besonders üppigen Literatur. Augusto Monterroso geht einen anderen Weg: Er züchtet eine Art Bonsai-Prosa, scharfsinnig, boshaft und lakonisch. »Fruchtbarkeit. Heute fühle ich mich wohl, ein Balzac; ich beende diese Zeile.«

Ab 1947 publiziert der Guatemalteke, 1959 kommt ein Buch mit dem neckischen Titel »Gesammelte Werke und andere Erzählungen«. 1969 erscheint die Kollektion »Das Schwarze Schaf und andere Fabeln«, und so geht die Titelstory: »In einem fernen Land lebte vor vielen Jahren ein Schwarzes Schaf. Es wurde erschossen. Ein Jahrhundert später errichtete ihm die reuige Herde ein Reiterstandbild, das sich im Park sehr stattlich ausnahm. So dass fortan alle schwarzen Schafe, die auftauchten, umgehend an die Wand gestellt wurden, damit künftige Generationen gewöhnlicher Schafe sich ebenfalls in der Bildhauerei üben konnten.« Bei berühmten Kollegen stößt das Buch auf Bewunderung. Carlos Fuentes sagt: »Man stelle sich Borges' phantastisches Bestiarium beim Tee mit Alice im Wunderland vor. Oder Jonathan Swift in privater Korrespondenz mit James Thurber. Man stelle sich den Springfrosch von Calaveras in die Lektüre von Mark Twain vertieft vor. Voilà: Monterroso.«

Das Buch im Ganzen - ein moderner Latino-Klassiker - erschien in spritziger Übersetzung jetzt zum erstmals auf Deutsch. (Einzelne Texte wurden allerdings schon vor Jahrzehnten übertragen, für Bände bei Diogenes und Reclam Leipzig.) Die Sammlung besteht aus gut vierzig Miniaturen, in Mehrheit Fabeln, doch es sind Fabeln ohne gereckten Zeigefinger. Manche Geschichte erinnert in ihrer klugen Absurdität an Kafka, und einmal huldigt der Autor seinem Vorbild sogar. Hier ist der Text, komplett, nur ein Satz: »Es war einmal eine Schabe mit Namen Gregor Samsa die träumte sie sei eine Schabe mit Namen Franz Kafka die träumte sie sei ein Schriftsteller der über einen Angestellten mit Namen Gregor Samsa schriebe der träumte er sei eine Schabe.«

Monterroso parodiert das Fabel-Genre, und er attackiert den Anthropozentrismus. Seine Tiere sind oft bildungswütig, der Mensch hingegen ist ein sonderbares, nur mäßig intelligentes Wesen. Die Krone der Schöpfung? Wohl kaum, meint der Dichter. Nein, Religion mag er nicht, dieser Autor, er lacht über Aberglauben. In »Der wiederkehrende Erlöser« fabuliert er, es habe endlos viele Christi vor und nach Christus gegeben, mit identischer Botschaft, fast alle wurden ermordet; in verständnisvollen Zeiten würden sie leicht schwermütig, denn: »Entschlossene Ablehnung ist ihnen lieber als teilnahmsloses Dulden und Schafott oder Erschießungskommando lieber als Psychiater oder Kanzel.«

Augusto Monterroso schafft in 81 Lebensjahren nur ein schmales Werk, rund ein Dutzend Bücher. Auf die Bände mit Kurzprosa folgten humorvolle Essays, etwa über Borges, sowie ein einziger Roman, Titel: »Der Rest ist Schweigen«. Wer den Erzähler in später Zeit über sein Schreiben befragte, hörte ihn vom Suchen und Versuchen schwärmen, doch offenbar schien ihm, es sei alles gesagt. Irgendwann fürchtete er sich vor jeder weißen Seite. Merkwürdig, meinte ein Interviewer Mitte der Siebziger: Humor und Leichtigkeit würden diese Furcht stets verdecken. Monterroso erwiderte, ganz im Stil seiner Fabeln: »Wachsame Tiere tarnen oder verstellen sich. Wahrscheinlich bin ich ein gewaltiges, aber als Ameise getarntes Tier - aus Angst, den Lesern oder meinen Freunden eine zu große Angriffsfläche zu bieten.«

Augusto Monterroso: Das Schwarze Schaf und andere Fabeln. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Insel Verlag. 71 S., geb., 14,90 €.