nd-aktuell.de / 05.07.2012 / Politik / Seite 20

Wirklich gefunden?

CERN-Forscher glauben Higgs-Teilchen nachgewiesen zu haben

Physiker des europäischen Kernforschungszentrums CERN bei Genf stellten am Mittwoch Ergebnisse vor, die sie als wahrscheinlichen Nachweis des sogenannten Higgs-Teilchens interpretieren. Dieses Teilchen verleiht nach der Theorie allen anderen Teilchen ihre Masse.

Berlin/Genf (nd-Schmidt/Agenturen). Nachdem bereits im Vorjahr am Teilchenbeschleuniger LHC des CERN eine Messung deutliche Hinweise auf das lang gesuchte Higgs-Teilchen ergab, wurde jetzt noch einmal bei einer Protonenkollision am größten Teilchenbeschleuniger der Welt ein Objekt mit einer Masse von 125 Gigaelektronenvolt (GeV) beobachtet. Die Masse von Elementarteilchen wird in Elektronenvolt gemessen.

Das korrekt eigentlich Higgs-Boson genannte Teilchen gehört als Boson zu jenen Teilchen, die die Kräfte zwischen den Materie-Teilchen vermitteln. Zu ihnen gehören neben den Photonen auch die Gluonen, die für den Zusammenhalt der Quarks in Proton und Neutron sorgen. Der letzte, bislang hypothetische Baustein dieser Art wurde 1964 von dem Schotten Peter Higgs eingeführt, um die Masse der übrigen Materieteilchen zu erklären.

Aus den Rechnungen ergab sich auch, wie groß die Energie beim Zusammenstoß von Elementarteilchen sein müsste, um das Higgs-Boson freizusetzen. Erst mit der Fertigstellung des LHC - eines 27 Kilometer langen Ring-Beschleunigers - schien der Nachweis möglich. Mit den gemessen 125 GeV wäre das Teilchen nicht nur das schwerste je gemessene Boson, der Wert würde auch zu den theoretischen Rechnungen für das Higgs-Teilchen passen.

Nach einigen Pannen beim Start sammeln die Physiker am CERN nun seit zweieinhalb Jahren Daten. Im LHC werden Protonen mit beinahe Lichtgeschwindigkeit aufeinandergeschossen. Dabei erzeugen sie Teilchen, wie sie beim Urknall existierten, und messen diese mithilfe riesiger Detektoren. Seit dem Start wurden Billiarden solcher Kollisionen untersucht. Allein seit April dieses Jahres wurden mehr Daten gesammelt als im gesamten Vorjahr.

»Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts«, schwärmte Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY in Hamburg, der auch am CERN arbeitet. »Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, Atlas und CMS.« Die beiden hausgroßen Detektoren befinden sich im Tunnel des LHC-Beschleunigers. Sie sind nötig, da das Higgs-Boson sehr kurzlebig ist und daher nur Energie und Ladung der Zerfallsprodukte gemessen werden können.

Doch die Physiker bleiben vorsichtig: »Jetzt müssen wir herausfinden, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um den noch fehlenden Baustein des Standardmodells handelt«, sagte Achim Stahl von der RWTH Aachen. Er ist deutscher Sprecher des CMS-Experiments am CERN. »Es könnte auch ein Higgs-Teilchen sein, das nicht ins Standardmodell passt, oder etwas gänzlich Unerwartetes. Alles wären große Entdeckungen, nicht nur für die Teilchenphysik.«

Auch wenn Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) den Wissenschaftlern in Genf schon mal zur Entdeckung eines neuen Teilchens gratulierte, sind nicht alle Physiker so ganz überzeugt. In einem Interview des Internetmagazins Spektrum kritisierte der Physik-Nobelpreisträger Martinus Veltman das CERN, dass man Ergebnisse bekannt gebe, die eigentlich von den an den Experimenten beteiligten Forschern selbst veröffentlicht werden müssten. Eigentlich hätte man aus der Affäre mit den angeblich überlichtschnellen Neutrinos lernen müssen, dass solche voreiligen Bekanntgaben ins Auge gehen können, meint Veltmann. Zur Erinnerung: Bei den Neutrinos hatte sich bei einer nachträglichen Überprüfung der Messanordnung gezeigt, dass ein Kabelfehler für die vermeintliche Überlichtgeschwindigkeit verantwortlich war.

Zumindest den Vorwurf des Alleingangs kann man dem CERN ersparen, denn parallel zu der Genfer Einrichtung veröffentlichten auch beteiligte Universitäten aus Deutschland und der Schweiz ähnlich lautende Mitteilungen.