nd-aktuell.de / 09.07.2012 / Politik / Seite 5

Gaucks Appell an die Kanzlerin

Das Staatsoberhaupt fordert eine bessere Vermittlung der europäischen Krisenpolitik

Stefan Otto
Ängstliche Stimmen mehren sich, die einen Stimmungsumschwung gegenüber der Euro-Rettung in der Bevölkerung befürchten. Die Vorbehalte würden größer, heißt es nur wenige Tage, bevor sich das Bundesverfassungsgericht mit dem europäischen Rettungsschirm ESM beschäftigt.

Bislang war in Deutschland von der Schuldenkrise nicht viel zu spüren. Auch deshalb nicht, weil die offiziellen Arbeitslosenzahlen so niedrig sind wie seit Jahren nicht mehr. Doch langsam trübt sich die Konjunktur auch hierzulande ein, die Prognosen für 2012 sagen nur noch maximal ein Prozent Wachstum voraus. Inmitten dieser sich eintrübenden Stimmung beschäftigt sich morgen das Bundesverfassungsgericht mit dem europäischen Rettungsschirm ESM und dem Fiskalpakt, der die Euro-Staaten künftig zur Sparsamkeit zwingen soll. Der mit 700 Milliarden Euro ausgestattete ESM-Fonds sollte eigentlich bereits am 1. Juli in Kraft treten. Doch er liegt auf Eis. Das oberste Gericht verhandelt morgen darüber, ob es dem Bundespräsidenten Joachim Gauck die Unterzeichnung der Zustimmungsgesetze verbietet, bevor in der Hauptsache entschieden wird.

Gauck will mit der Unterzeichnung aber ohnehin warten, bis das Bundesverfassungsgericht darüber befindet, ob die Befugnisse des ESM und des Fiskalpaktes entscheidend in die deutsche Schuldenpolitik hineinregieren und damit nicht mit dem Grundgesetz konform seien. Geklagt gegen diese Euro-Rettungsaktionen haben unter anderem die Linksfraktion im Bundestag und die Initiative »Mehr Demokratie«. Dass Gauck über die Klagen froh sei, hatte er bereits mehrfach gesagt. Nun richtete der Bundespräsident am Samstag einen dringenden Appell an die Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie solle die äußerst umstrittenen Maßnahmen zur Euro-Rettung künftig besser erklären, sagte er in einem Interview mit dem ZDF. Sie habe die Verpflichtung, sehr detailliert zu beschreiben, was das fiskalisch zu bedeuten habe.

Auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) sieht seit dem EU-Gipfel in Brüssel einen Stimmungswechsel und eine zunehmende Angst der Bundesbürger um ihr Geld. Mehr denn je sei die Politik gefordert, ihr Handeln den Bürgern zu vermitteln. Die Kritik der 170 Wirtschaftswissenschaftler, die sich am Freitag in einem Schreiben an die Öffentlichkeit wandten und vor einer Rekapitalisierung spanischer Banken auf Kosten des deutschen Sparbuchinhabers warnten, könne er nicht nachvollziehen. Das sei in den Beschlüssen nicht zu lesen. Durchaus selbstkritisch merkte Albig aber angesichts dieser Stimmungsmache auf »Boulevardargumentationen« an: »Wir müssen trotz des hektischen Treibens viel mehr erklären: Warum tun wir etwas, und warum ist es sinnvoll?«

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) warnte am Wochenende vor den gravierenden Folgen, sollten ESM und Fiskalpakt vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Das hätte Folgen nicht nur für Deutschland, mahnte Lammert im SWR und hofft darauf, dass das oberste Gericht auch diese weitreichenden Zusammenhänge in die Urteilsfindung einbeziehen werde.