Poetischer Luftkutscher

Ludwig Harig 85

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Was wäre die deutsche Gegenwartsliteratur ohne ihre Alten, die Generation 80+? Ohne de Bruyn, Grass, Kunert, Lenz, Walser, Wellershoff. Ganz, ganz arm! Einer, der immer noch an vorderer Front steht, Ludwig Harig, hat pünklich zu seinem 85. Geburtstag einen neuen Band mit autobiografischen Erzählungen vorgelegt.

Seine Lebens- und Altersweisheit hat der saarländische Schriftsteller einmal poetisch im Sonett »Allein die Liebe« beschrieben - widersprüchlich, ja paradox. »Nichts ist von Anfang an«, lesen wir da in der dritten Strophe, die das Erdentreiben des Menschen folgendermaßen zusammenfasst: »Der Mensch muss spekulieren,/ muss,/ trachtet er nach Sinn,/ Geschichten fabulieren,/ sonst wird er unbemerkt/ von dieser Welt verschwinden.« Wohingegen dann die vierte und letzte Strophe behauptet: »Die Welt ist öd und leer./ Der Mensch muss phantasieren,/ muss sich das ganze Sein zusammenfabulieren./ Allein die Liebe ist,/ sie muss man nicht erfinden.«

Schreibarbeit ist Lebensarbeit, ist poetische Luftkutscherei, worin Harig wiederholt den Kern seines Schreibens sah. Ihm die einzig probate Möglichkeit, Leben und Wirklichkeit spielerisch in den Griff zu bekommen - denn nur die erfundene Wahrheit mache frei. So erzählt und erschafft sich Ludwig Harig seit den späten 50er, frühen 60er Jahren, damals noch geprägt von Max Benses Stuttgarter Schule und der »Konkreten Poesie«, seit den 80er Jahren dann vor allem als Erzähler von (auto-)biografischer Prosa, einen gigantischen Kosmos.

Vor allem in Romanen und Erzählungen, etwa in der autobiografischen Trilogie »Ordnung ist das ganze Leben« (1986), »Weh dem, der aus der Reihe tanzt« (1990) und »Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf« (1996) oder »Spaziergänge mit Flaubert» (1997), legt er Zeugnis einer Poetik der Erinnerung ab. Freilich nicht - schlechten naturalistischen Eingedenkens - darüber, wie etwas gewesen ist, sondern vielmehr wie etwas hätte gewesen sein können.

Zum Beispiel das Leben des eigenen Vaters, das mitnichten bloß entlang der dürren äußeren Fakten rekonstruiert und beschrieben wird, sondern das im Akt des Schreibens und Erzählens zum zweiten Mal erfunden wird. Dazu heißt es im ersten Kapitel des Vaterromans »Ordnung ist das ganze Leben«: »Doch die Luft, die er so lebensvoll atmete, zerplatzt mir in lauter Seifenblasen aus Wörtern, und wenn ich den Mund aufmache und zu erzählen beginne, zerstiebt ein halbes Jahrhundert zwischen meinen Lippen in einzelne Silben, die ich immer und immer wieder neu zusammensetzen muss zu Wörtern, die ich jetzt noch gar nicht kenne.«

● Ludwig Harig: Meine Siebensachen. Ein Leben mit den Wörtern. Gesammelte Werke. Bd. VII. (Hg. Benno Rech). C. Hanser Verlag. 528 S., brosch., 27,90 €.

● Klaus Brill/ Benno Rech (Hg.): Aus dem Leben eines Luftkutschers. EntdeckerMagazin. Edition Schaumberg, 144 S., brosch., 16 €.

● Werner Jung: Bibliographie Ludwig Harig. 1950-2012. 2., ergänzte Auflage. Aisthesis Verlag. 360 S., brosch., 44,80 €.

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