Der große Spiegel

Komik und Satire in Neuer Musik

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 8 Min.

Satire, Ironie, Spott, Parodie, Persiflage und sonstige Hinterhältigkeiten lauern - wie Wildkatzen auf dem Sprung - in manchem guten Kunstwerk. Bitterkeit erhält ihren Reiz erst durch Komik. Nicht bös genug kann es zugehen, und gerade das macht lachen. Aber nur halb. Gegenteilige Dinge müssen hinzutreten. Und hier beginnt die Irritation. Was heißt Leben? Was ist das, was ist? Was hat es mit dem Spiegel auf sich, der es reflektiert? Der große Theatermann Peter Brook schreibt: »Theater zeigt nicht nur die Oberfläche, es zeigt, was hinter der Oberfläche in den komplexen sozialen Beziehungen verborgen liegt - und dahinter wiederum die letztendliche existenzielle Bedeutung dieses Treibens, das wir Leben nennen. All dies kommt zusammen und wird in dem großen Spiegel reflektiert.«

Was fängt der Spiegel und wirft zurück, wenn es sich um Komik, Satire handelt? Wie funktionieren deren Möglichkeiten in Musik, vornehmlich Neuer Musik? Der Musikhistoriker Gerd Rienäcker: »Die Satire verlangt, dass der Künstler mit doppeltem Boden arbeitet. D. h. die Satire verweigert sich einer Materialästhetik, die sagt, es muss nur in sich stimmig sein. Die Satire verlangt, es ist nicht in sich stimmig. Verlangt ein Verhältnis, das wach ist, das mit den Gedanken dazwischen zu kommen versucht; das illusioniert, um das Gegenteil danach zu machen. Und darin ist Schostakowitsch einer der großen Meister.« Der Russe hat es vorgemacht. »Die Nase«, er schrieb sie mit einundzwanzig, spiegelt ungewöhnlich drastisch die Idiotien der Bürokratie - eins der bösesten und kompositorisch irrwitzigsten Stücke nicht nur der Operngeschichte.

Neue Musik weiß ihre Zuhörer durchaus mit musikalischen Giften und belfernden Kommentaren zu bedrängen. Welch ein Vorzug. Allein wie wenig kommt er zur Geltung. Die Möglichkeiten gehen bis hin zum »blutigen Witz«, den Brecht bei Karl Valentin gehört hat. Das Tragikomische interessiert. Das Kippen des einen ins andere. Die Brechungen im Spiegel, nicht das bloße Abbild. Die Groteske, vorgestellt in der Mischung von heiß und kalt. Das Parodieren entlang menschlicher Schwächen und Trugbilder. Der »makabre Spott« auf dem Rücken von Leichen, den die Angelsachsen so lieben. Die »böse Ironie«, die erheitert und erschlägt. Das sprichwörtliche Lachen, das einem im Halse stecken bleibt.

Wie wahr, was Komponist und Pianist Hermann Keller schreibt: »Wer sich nicht in die Nähe von Grenzen wagt, wer sich ängstlich bemüht, in der Mitte zu bleiben, der wird sich nicht dort, nicht im Zentrum seiner selbst wieder finden, sondern abseits irgendwo hingeworfen an einen zufälligen Ort.« Wenn nicht von dort, woher sonst rührt der Mut zur Wahrheit, wo doch angeblich jeder die seine habe?

Keller hat zu Hause an der Wand einen Text hängen: »Was sind das für Zeiten, wo ›4' 33‹ von Cage fast ein Verbrechen sind, weil sie ein Schweigen über so viele Untaten einschließen.« Darauf machte er das klanglich sehr sparsame, pausendurchsetzte Stück »Mehr als 4 Minuten 33 Sekunden Tacet«. Es führt per Mund und Kehlkopf, gestützt durch ausgehaltene Töne, die Großverbrechen an, begangen vor dem 11. September 2001. Es verbalisiert die Untaten der Staaten, die fremde Untaten andauernd geißeln und die eigenen unter die Decke kehren. Es reiht die geostrategischen Kriege im Namen der Sicherheit und deren blutige Folgen auf. »Mehr als 4 Minuten 33 Sekunden Tacet« dauert entsprechend lange. Und weil die Komposition auf kuriose Weise nicht schweigt, ist sie zugleich eine Satire von höchstem Ernst.

Anders die Gruppierung um Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Georg Katzer, Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Christfried Schmidt, jene Avantgarde der DDR, deren blitzgescheite, moderne Stücke einigen wenigen noch im Ohre klingen dürften. Sie spitzten ihre Federn und Zungen über Makel und Querstände des Systems, in dem sie groß geworden sind, und setzten darauf grantige Zwölftonreihen, krähfüßige Gesänge und sonstige Raubeinigkeiten. Voran Friedrich Schenker. Schon die Titel verraten es: »Leitfaden für angehende Speichellecker«, »Die auf Sitzungen Versessenen«, beide nach Majakowski, »Tirilijubili«, »Commedia per musica« etc. Friedrich Goldmann komponierte den grotesken »R. Hot«, eine Kammeroper nach Lenzens Tragödie »Der Engländer«, zusammengesetzt aus über hundert Posen, worin sich jugendlicher Emanzipationsdurst komödiantisch Luft macht. Georg Katzer schuf mit der spöttischen »Szene« für Kammerensemble ein »Hohelied« auf die Dummheit in der Musik. Christfried Schmidt erdachte die Satire »Tonsetzers Alptraum - Ergötzliche Aria con Variazioni über die objektiven Schwierigkeiten zu arrivieren, oder wie reagiert das Musikestablishment auf die Angebote eines unbekannten Komponisten«. Bredemeyer schrieb die Chorsatire »Post-Moderne«, gemünzt auf das Verbot der Zeitschrift »Sputnik« durch das DDR-Postministerium 1989. Alle diese Stücke, teils dem Moment geschuldet, teils zeitlos, sind wider Erwarten nicht stumpf geworden und dürften die heutigen, oft langweiligen, unkritischen Szenen allemal beleben.

Nach dem Systemwechsel betrieb mancher dergleichen unbeirrt weiter, nun aus dem Regen in die Jauche gefallen. Reiner Bredemeyer, Ausbund höhnischer, scharfsinniger Gestaltungen, delektierte sich alsbald an Schumanns Klavierstück »Aufschwung« und machte daraus die Persiflage »Aufschwung Ost«. Friedrich Schenker schloss nahtlos an die Zeit vor 1989 an und arbeitete auf der Linie seines radikalen Pazifismus (»Missa nigra« 1979) unversöhnlich und hartnäckig weiter an Themen wider jegliche Kriegstreiberei (»Witchcraft to freeze the NAVY«, Oper »Gefährliche Liebschaften oder Der kalte Krieg«, Libretto Karl Mickel) und jeglichen Rassismus (»Goldberg-Passion«, Libretto Karl Mickel).

Warum sind die Stimmen so gefürchtet, die den feigen Überfall mit Drohnen, den perfekten potenziell verlustlosen Krieg verachten und das auch artikulieren, die Stimmen jener Gelehrten, Pastoren, Publizisten und Künstler, welche die Schweinerei des Abschlachtens, des Brennens und Mordens, die Schamlosigkeit der Rechtfertigung der Bombardements auf serbische Städte, Brücken, Fernsehstationen, Fabriken, Wohnhäuser verurteilen? Auch Komponisten befinden sich unter jenen Mutigen, die solche Kritik riskieren. Von den Verhältnissen genötigt, gehen sie statt mit der Messingfeder mit der Jauchenharke durch ihre Fakturen und wenden den Blick dorthin, wo er hin gehört, nämlich dorthin, wo die Dächer der Blechhütten undicht sind, wo Menschen im Dreck liegen, wo Jugend allein gelassen ist und rebelliert, wo die kriminelle imperiale Politik haust und ihre Pläne der totalen Unterwerfung des Globus weiter ausheckt. Und wenn diese Mutigen derlei gesehen, gehört, gefühlt, begriffen haben, beginnt ja die eigentliche Arbeit erst. Von Hanns Eisler stammt der Satz: »Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts.«

Für den reflektierenden Musiker heißt das, die Ordnungen, in denen er arbeitet, in Unordnung zu bringen und sein Material zu flexibilisieren, wie man modisch sagt, damit sich der Horizont weitet und die Ergebnisse auch an den Hörer kommen. Vor allem aber: Die Akteure des blutigen Witzes, der messerscharfen Artikulation dürfen nicht länger mitmachen. Das Mitmachenwollen haut alles kaputt. Wer mitmacht, hat schon verloren. Und wer nicht einen gehörigen Schuss Anarchie in seiner Kunst hat, der sollte, milde gesagt, sein Metier überdenken.

Es ist tatsächlich so: Ein Komponieren mit Zähnen muss man heute suchen. Da scheint eine ganze Tradition weggebrochen. Die Gegenwart birst vor Widersprüchen, ist voll von Ungereimtheiten, Querständen, die Ungerechtigkeiten schreien zum Himmel und treffen auch Künstler, doch die wenigsten fassen das an. Ist die Kraft verlustig gegangen mit dem Gedanken: Wir können doch nichts machen?

Wie sagte der alte Wilhelm Heinse, Dichter der Frühromantik und Musikschriftsteller - er erforschte z. B. die Metaphysik des Hörens um 1800 -, den Blick auf Wasser, Sex und Geräusch gewendet: »Mann und Frau begehren einander, ziehen einander an, stoßen sich ab. Ganz wie in einem bürgerlichen Haushalt. Liebe, Heirat und Scheidung - das ist es, was die Welt ausmacht.« Heinses Lakonie lässt sich guten Gewissens übertragen. Ganz einfach. Etwas entsteht, es bleibt eine Weile bestehen und geht in die Binsen. Und wieder von vorn ... Wie in der Natur: Zurück zur Eiszeit oder voran im Rückwärtsgang zum gentechnisch produzierbaren Menschen.

Welche Kunstart könnte jenes erwähnte Prinzip des Werdens und Vergehens besser darstellen als Musik? In jedem Fall kann sie, das sei behauptet, aus sich heraus ungleich rascher, präziser, abgefeimter ihr Material abwickeln und rational, gewinnbringend auffädeln als die einstige Treuhandanstalt die ostdeutsche Industrie. Kriminelles und Kunst, Verbrechen und Musik. Ein offenbar ewig währender, nicht nur sensationsgierige, lasterhafte Menschen bis in die Haarwurzeln elektrisierender Komplex mit manch heiterer, radikaler Wendung.

Selbst dort, wo ringsum kalte Asche ist, holzen die Macher des globalen Verhängnisses nieder, rammen Hekatomben von Beton in Mutter Erde, schlagen aus dem Felde, was der Rendite zuwiderläuft, lassen kalt lächelnd Dörfer, ja ganze Landstriche sterben, stellen Mahagonnys der Neuzeit auf mit all dem Kulturschrott drin, der die Hirne abstumpft. Gold- und Ölsucher, Energieauguren, Plattmacher, Produzenten von Unsinn finden sich zuhauf. Vor allem dort, wo der Wahnwitz blüht, die Maßlosigkeit sich austobt, der Gerechtigkeitssinn beschämt wird, wo die Zurichtung und Züchtigung haust, dort zücken die Intelligentesten unter den Clowns der Kunst ihre Spiegel, um sie dem Irrsinn vorzuhalten. Komponisten tun das mit Hilfe von Klangmasken, mit den Mitteln der Tragikgroteske, den Potenzen der Karikatur, der Persiflage, der Überzeichnung usf. Allesamt dialektische Vorgänge. Gerd Rienäcker: »Eine zähnefletschende Satire ist keine mehr.«

Musik kennt ihre Membranen, sie arbeitet auf ihre spezielle Art seismografisch. Sie weiß zu modellieren. Was man vielleicht nur der schreibenden Zunft zutraut: Sie kann Lösungsoptionen modellhaft offerieren, und bleibt doch Kunst.

»Die Friedensfeier - Aria bravoura per tenore e otto strumenti«, die Friedrich Schenker 1982 auf ein Gedicht von Karl Mickel komponierte, das 20 Jahre zuvor entstand, hat so eine Lösungsoption. Was Schenkers hypertrophe Aria sagt, wirkt geradezu entwaffnend. Quer stehend wie die Dichtung singt sie ein Hohelied auf eine nützliche Zerstörungsarbeit. Selbstbewusst, in verrücktester Stimmlage, steigt der Tenorist ohne Federlesen in den Text. Ein Vorspiel fehlt. Es scheint, als müsse die Aria, indem sie wie eine italienische Bravourarie abläuft, immerfort ihre hohe Virtuosität unter Beweis stellen. Wildwüchsige Blüten treibt die herrschende Überartikulation, indem vokale und instrumentale Gesten sich überschlagen, Parlandi auf- und abblitzen, halsbrecherische Melismen den Reigen zu kippen drohen.

Friedrich Schenker: »Das ist diesmal keine krumme Ironie, das ist einfach eine Freudenbezeugung, wenn man die Kanonen und die Gewehre alle vernichten kann, in die Eisengießerei schafft und sie einschmilzt.«

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