Als die Tochter des Mehmet Kubasik, der in Dortmund im April 2006 hinter der Theke seines Kiosks durch mehrere Kopfschüsse kaltblütig ermordet worden war, gegenüber der Polizei beteuerte, ihr Väter hätte weder in der Türkei noch je in Deutschland Feinde gehabt, und sie sich überzeugt zeigte, dass Neonazis ihn ermordet hatten, wollten die Beamten davon nichts wissen. »Die haben nicht auf mich gehört«, sagte sie Christian Fuchs und John Goetz und nahm damit den Kern des Buches dieser beiden Journalisten vorweg, das den Verbrechen der Zwickauer Terrorzelle Mundlos-Böhnhardt-Zschäpe nachgeht und schonungslos aufklärt, was ein Heer von Ermittlern lange nicht aufzuklären imstande war - oder nie wirklich aufklären wollte.
Zehn kaltblütige Morde in zehn Jahren, acht an Türken, einer an einem Griechen, und der zehnte an einer jungen Polizistin, dazu Banküberfälle en masse mit Abertausenden Euros Beute, ohne dass ein Zusammenhang zwischen den Morden und den Überfällen erwogen oder gar die Thüringer Terrorzelle dingfest gemacht wurde, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte und ihre Fremdenfeindlichkeit offen kundtat - bis in die Spitzen des Innenministeriums hinein wurden sie nicht in Betracht gezogen, nicht von Otto Schily oder auch Helmut Roewer, dem einstigen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes, der Unsummen von Steuergeldern an V-Männer verschleudert hatte, ohne auch nur den Hauch eines Hinweises auf das Mördertrio zu erfahren.
Über lange Zeit vermuteten die Behörden (sie bestanden geradezu darauf), dass die Ermordeten Opfer innertürkischer Fehden seien, im Drogenkrieg einer türkischen Mafia verwickelte Kleinunternehmer: Kurzum, eine türkische Mafia ließ Landsleute töten, die sich dem Drogenhandel verweigert hatten oder nur für sich selbst daran verdienen wollten. Als allmählich ruchbar wurde, dass es sich auch um neonazistische Verbrechen handeln könnte, presste eine Sonderkommission »Bosporus« dem Verfassungsschutz Bayern 682 Personalien von Rechtsextremen ab, startete Rasterfahndungen, überprüfte 112 000 Personen, Millionen Kreditkartendaten und Zehntausende von Hotelbuchungen, wertete 32 Millionen Datensätze aus und ging 3500 Ermittlungsspuren nach. Eine heiße Spur wurde nicht gefunden.
Das gut recherchierte, gut gegliederte und flüssig geschriebene Buch verfolgt nicht bloß die Spur der zehn Morde, klärt nicht bloß die Serie bewaffneter Banküberfälle auf, sondern beschreibt auch akribisch, wie zwei junge Männer und eine junge Frau der Mittelschicht rechtsextreme Terroristen wurden: »Die Zelle« wird zu einer außergewöhnlichen Fallstudie, die darlegt, wie eine von den Nachbarinnen wohlgelittene, zu Geselligkeiten neigende und Katzen liebende Beate Zschäpe die kaltblütigsten Verbrechen zu planen imstande war. Ein Uwe Mundlos wird gezeigt, der seinem Vater gerecht zu werden versuchte, indem er eifrig einem Mathematikstudium nachging, gleichzeitig aber, von Fremdenhass besessen, für jeweils 100 DM Monopoly-Spiele in sogenannte Pogromly-Spiele umfunktionierte, bei denen für das Schänden jüdischer Gräber und das Töten von Linken Prämien gezahlt werden. Man erfährt von einem Uwe Böhnhardt, der sich in einem Ferienlager beliebt zu machen verstand und dort echte Freundschaften schloss, dabei hatte er nur Tage zuvor kaltblütig gemordet. Hier bewährt sich das Buch durchaus auch literarisch - es könnte die Vorlage für ein vielschichtiges, das gesellschaftliche Klima im gegenwärtigen Deutschland durchleuchtendes Romanwerk abgeben, das aufdeckt, wie zehn Jahre lang die Ahndung rechtsextremer Verbrechen verhindert werden konnte.
Christian Fuchs und John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland. Rowohlt. 284 S., brosch., 14,95 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/235261.nachbarn.html