nd-aktuell.de / 17.08.2012 / Kultur / Seite 15

Die Moderne liegt in der Mandschurei

Heute wird der große französische Zeichner Sempé 80 Jahre alt

Hans-Dieter Schütt

Der Kleinbürger ist: der kleine Bürger, und schon kommt Mitleid ins Spiel, Ehrerbietung für die Tapferkeit, sich als Mensch zu behaupten - obwohl man selber doch längst erfuhr, dass man eine Ameise ist. Seit es Menschen gibt, haben die Ameisen einen Gott, der heißt Kafka. Er macht die Welt groß und hält sie eng. Hohe Häuser, schluchtige Straßen - die einzige Blume, die da unkrautig wild wächst, ist die Neurose.

Dies könnte der Gedanke sein, der ins weltberühmte Bilder-Werk von Jean-Jacques Sempé führt. Die Emsigkeit, mit der Menschen ihrer Entfremdung eine Maske anlegen, dieser Fleiß berührt und amüsiert. So berichtet, auf einer Zeichnung, ein Conférencier: »Und in den Steppen der Mandschurei fragte ich mich zuerst, ob ich diese entsetzliche Kontaktlosigkeit, dieses völlig Alleinsein ertragen könnte.« Im riesigen Vortragssaal sitzen aber nur zwei weit auseinandergerückte Zuhörer. Oder: Zwei Bahnarbeiter laufen zwischen Güterwagen, und einer spricht über seine Freundin: »Romantik - sie führt nur dieses Wort im Mund. Ich frage sie: Soll ich mit dem 714-er um 19 Uhr 24 oder mit dem 316-ner um 20 Uhr 12 zu dir kommen? Keine Antwort!« Das ist sie, die ewige traurige Urszene, und nur der geradezu streichelnde Witz stößt winzige Löcher ins Gewölbe der kosmischen Gefängnismauer. Die uns ums Herz wuchs.

Jean-Jacques Sempé, vor 80 Jahren in Bordeaux geboren, braucht oft das große Format, weil Riesenräume und Menschenmassen Platz finden müssen. Der Kleine kämpft gegen Große, der noch Kleinere gegen das Meer. Oder gegen Wüsten aus Sand und Beton. Oder Wüsten ganz aus Büro und Wohnungsbombast. Seine Gestalten tragen die immergleichen Nasen, aber im Schicksal ihrer immergleichen Überforderung, Verknotung und Verknetung sind sie doch Legionen von Sonderfällen.

Für den Schüchternen kommt in jedem Unglück Glück vor, weil er es gar nicht erwartet. Davon erzählen diese leisen, linienleichten, wie hingetupften Bilder, auf denen das Winzige gegen das Wuchtige, das Wartende gegen das Wuselnde antänzelt; Bilder wie die Filme von Jacques Tati über den vertrackten Fettnapf-Tapser und Weltflüchtler Monsieur Hulot. Sie offenbaren den ganz wunderbaren Charme der Scham, die eigene Pein zeigen zu müssen. Deshalb kann Sempé den Humor von Woody Allen nicht leiden, diese masochistische Gier, alles distanzlos auszuplaudern.

Soeben erschien bei Diogenes Zürich »Kindheiten« von Sempé, ein Band mit Bildern und einem Interview von Marc Lecarpentier. Es offenbart sich, was der Kunstessayist Werner Spies geschrieben hat: Sempé schuf eine Analogie zur Schrecksekunde, »die Lachsekunde«. Er spielt graziös mit den leeren Momenten zwischen einem Ereignis und dessen Wahrnehmung - in dieser Leere wandelt sich Erschrecken über den eigenen Schlamassel in Neugierig darauf. Sempés Leutchen sind kennerisch im Aushalten und staunend im Schock, dem sie ausgesetzt sind. In bedrängender Moderne sind sie nicht so angepasst, wie sie es um des lieben Friedens Willen gern wären, aber auch nie so eigensinnig, wie sie sich einbilden.

Den kleinen Nick hat er für seine Bilderbücher erfunden, und überhaupt: Kinder sind ihm Klippenspringer übers Unmögliche, sie bleiben dabei Schüchterne. Wer schüchtern ist, lädt die Welt dazu ein, sich gegen ihn durchzusetzen. Kinder sind ihm erste Zeugen der untröstlichen Erkenntnis, dass die Welt das tatsächlich tut, sie braucht uns nicht. Aber Kinder sind auch jene tolldreisten Helden, die dem Leben im wahren Sinn des Wortes mitspielen - indem sie dem Leben fröhlich entgegentoben: Wir brauchen dich auch nicht, wir fantasieren dich weg.

Sempé: Kindheiten. Bilder und ein Gespräch mit Marc Lecarpentier. Aus dem Franz. von Patrick Süskind. Diogenes Verlag Zürich. 272 S., geb., 39,90 Euro.