Geschichte in Geschichten

»Das halbvolle Glas« - ein »Erich Loest Lesebuch«

  • Carsten Gansel
  • Lesedauer: 4 Min.

Erich Loest, der 1926 in Mittweida/Sachsen geboren wurde, gehört in der Gegenwart zu den renommiertesten deutschen Autoren. Wollte man versuchen, grundlegende Momente seines Selbstverständnisses zu erfassen, dann ist der realistische Erzählansatz hervorzuheben. In einem Beitrag zu dem von ihm geschätzten Franz Fühmann hat Erich Loest sehr klar den Ausgangspunkt seines Schreibens umrissen. »Was meinen Geschmack als Leser anlangt«, so der Autor, »so sind mir Geschichten am liebsten, die den Eindruck erwecken, das, was da geschildert wird, habe sich tatsächlich so zugetragen.« Und es folgt der Satz: »Sollte ich je ein Lieblingsgeschichtenbuch herausgeben dürfen, stünde Hemingway ganz oben.«

Dieses Buch gibt es - leider - noch nicht, dafür aber ein Lesebuch zu Erich Loest. Man kann den Herausgebern Regine Möbius und Michael Hametner - beide ausgesprochene Loest-Kenner - wie dem Verlag für diese Initiative nur danken. Entstanden ist ein Lesebuch im besten Sinne. Die Herausgeber betonen, dass es problematisch ist, aus dem Romanganzen Teile herauszulösen, denn in der Tat entfalten erzählte Geschichten ihren Reiz nur »bei der Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite«. Und dennoch vermag das Lesebuch gerade auch jüngeren Lesern Einblicke in das Schaffen eines Autors zu geben, in dessen Biografie und Werk sich deutsche Geschichte in einem Maße spiegelt, wie dies nur selten der Fall ist.

Erich Loest steht für ein Prinzip, das man so überschreiben könnte: Geschichte in Geschichten! Noch als 17-Jähriger war Erich Loest 1944 von der Oberschule weg einberufen worden, und er gehörte zu den wenigen Jungen seiner Einheit, die das letzte Aufgebot überlebten. Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann er 1946 bei der Leipziger Volkszeitung als Journalist. Parallel dazu waren bis 1947/48 bereits 40 Erzählungen entstanden, die eigenes Erleben verarbeiteten. Die traumatischen Kriegserfahrungen drängten nach literarischer Gestaltung. Diese frühen Texte waren letztlich Vorarbeiten zum ersten Roman, der 1950 erschien und den Titel trug »Jungen, die übrig blieben«. Unverkennbar finden sich in diesem Roman Spuren jenes Autors, der Erich Loest neben Hans Fallada besonders nahe stand, Ernest Hemingway. Es nimmt also nicht wunder, wenn die Herausgeber den Debütroman an den Anfang des Lesebuchs stellen.

Nachfolgend wird jeweils nach einem Grundprinzip verfahren: Es finden sich zu den ausgewählten Texten Hinweise zur Entstehung und zum Inhalt. Das ist gut so, weil der noch nicht kundige Leser auf diese Weise eine Einführung erhält und ihm durch die geglückte Auswahl Lust auf mehr gemacht wird. Es geht um Spannungserzeugung! Und Spannung im besten Sinne ist auch das, was den Autor Erich Loest durchweg auszeichnet.

In seinem Debütroman wird detailgetreu die Entwicklung einer Reihe von Schülern in den letzten Kriegsjahren erzählt. Der menschenverachtende Drill, Demütigung, die Brutalität der Ausbildung, dann das Grauen des Krieges, Desillusionierung und Verzweiflung. Bis heute gehört dieser Text zu den besten Anti-Kriegsromanen. Die Tatsache allerdings, dass Erich Loests Erzähler sich nicht klüger dünkte, als seine Figuren, trug dem Autor nach Erscheinen den Vorwurf der »Standpunktlosigkeit« ein und führte dazu, dass er zur »Bewährung« in die Produktion geschickt wurde. So geriet der junge Mann schon früh in den Status eines Freiberuflers, wurde zum Chronisten. Im Lesebuch findet sich dann eine Lücke von 16 Jahren, denn »Ich war Dr. Ley« erschien erst 1966 unter dem Pseudonym Waldemar Naß. Warum, wo doch Erich Loest mit dieser Roman-Parodie schon in den 1950er Jahren begonnen hatte?

Heutige jüngere Leser werden nicht fassen können, wie es möglich war, dass ein Schriftsteller in der DDR unter dem Vorwurf der »konterrevolutionären Gruppenbildung« 1957 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt werden konnte. Als »gemordete Zeit« hat Erich Loest diese Jahre bezeichnet. Nach der Entlassung 1964 begann er von vorn und zählte schon bald wieder zu den erfolgreichsten Autoren, zunächst noch im Krimi-Genre. Nach 1989 fand Erich Loest heraus, dass das Szenario für diese »Karriere« als Krimi-Autor bei der Stasi entworfen wurde.

Der nächste von den Herausgebern ausgewählte Roman führt dann erneut zu einem »Riss«: Mit dem Roman »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene« (1978) schrieb Autor Erich Loest sich in die erste Reihe jener Autoren, die gleichermaßen nüchtern wie akribisch den Alltag der kleinen Leute erfassten. »Es geht seinen Gang« gilt bis heute als eines der besten Bücher über die DDR. Der Text lebt von der Genauigkeit des Erzählens, gibt ein authentisches Bild davon, was die DDR einmal war. Versuche, den Text zu zensieren, führten schließlich dazu, dass Loest 1981 die DDR verließ und in der Bundesrepublik erneut von vorn anfing.

Das Lesebuch folgt mit den weiteren Textauszügen der Geschichte des Autors bis in die Gegenwart. Durch die gelungene Auswahl wird im besten Sinne für einen Autor geworben, der seit Ende der 1940er Jahre zum unbestechlichen Chronisten von deutscher Geschichte wurde und der mit seiner persönlichen Biografie dafür einsteht, dass Literatur nicht korrumpierbar ist. Einem solchen Lesebuch wünscht man viele Leser!

Das halbvolle Glas. Erich Loest Lesebuch. Herausgegeben von Regine Möbius und Michael Hametner. Projekte Verlag Cornelius. 477 S., brosch., 16 €.

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