Das Protokoll der Wünsche

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Einen von den drei Wünschen, die man jedes Jahr haben sollte, hatte Paul einer Karte für Salzburg gewidmet. Einer bestimmten. Ursprünglich waren es Karten. Warum die Festspiele unter die drei gekommen waren, war Paul nicht ganz klar. Das heißt, es gab mehr als einen Grund. Durfte man aber in einen Wunsch die Erfüllung von gleich mehreren Begehren unterbringen? Darüber sagte das Protokoll der Wünsche nichts aus.

Bayreuth, fand Paul, kam nicht in Frage. Zu laut, zu lange Vorbestellfristen, zu ungewiss der Ausgang. Bei Salzburg lagen sie bei einem viertel Jahr. Das war für die Wechselfälle des Lebens immer noch reichlich. Außerdem lag ihm Mozart mehr als Wagner. Gern hätte er sich auch das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker gewünscht, das er nach Möglichkeit an keinem Neujahrsmorgen im Fernsehen versäumte. Wenn er dabei einschlief, weckte ihn der Radetzky-Marsch jedes Mal glorreich. Doch das Neujahrskonzert war jenseits aller finanziellen Möglichkeiten. Auch brauchte er Karten für den 29. Juli, also den Sommer und nach Möglichkeit eine dabei mit der Platznummer 29. An dem Tag war der Jedermann in Salzburg. Auf den Domstufen. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Paul betrieb die Bestellung entschlossen. Er setzte den Kartenpreisen keine Grenze, als er an das Kartenbüro schrieb.

Die Antwort kam pünktlich. Alles war perfekt wie man in Österreich sagt. Er bekam die zwei Karten. Mitteltribüne vorn. Platz 29 und 30 am 29. Juli. Bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus. Paul war sich gewiss, es würde gutes Wetter sein. Die weiße Marmorfassade des Doms als Kulisse. Das steil aufragende Doppelturmpaar der Kirche sich daraus erhebend. Gegenüber die Zuschauertribünen. Das in der ganzen Welt verbreitete Ereignisbild. Nicht der Ersatzspielort.

Das Konzert mit Placido Domingo endete eine dreiviertel Stunde vor Beginn der Premiere von Harnoncourts Zauberflöte. Paul geriet beim Herausgehen aus dem Konzert unter die nebenan der Aufführung zuströmenden Premierengäste. Die Leute hinter der Absperrung begafften auch ihn, ganz fälschlich, jedoch kribbelte Paul der Rücken. Eine hochgewachsene Person in einem langen roten Gewand umgab ein Kreis von Fotografen. Sie hatte ein starres faltenloses Gesicht. Aber es war nicht der Tod aus dem Jedermann, wie Paul einen Moment dachte. Es war eine Prominente, die nicht alt werden konnte. Der junge Mann neben Paul streckte ohne Hinzusehen einen großen Geldschein nach hinten. Seine Hand kam mit einem Glas Champagner zurück. Paul hatte lange schon das Bedürfnis, etwas zu trinken. Er schaute das Büfett an und trank zwei Gläser.

Der Tod sah aus wie Ben Becker. Über den Domplatz hallte der Ruf JEDERMANN. Obwohl es kitschig war, bekam Paul einen kalten Rücken. Sonst war es ein lauer Juliabend. Der Abend von Idas Geburtstag. Paul hatte sich auf Platz 30 gesetzt. Das Spiel lief darauf hinaus, dass der Jedermann nicht allein sterben wollte. Er suchte Geleit für die letzte Stunde. Die 29 hatte Paul zurückgegeben nachdem ihm Ida Pfingsten den Namen eines Mannes gesagt hatte. Sie telefonierten noch ein- oder zweimal und obwohl Paul sich bemühte, fair zu sein, hatte sie ihm auch gesagt, dass er in seiner märkischen Kleingemeinde in einem Karnevalsverein aktiv war. Paul hatte sich fest vorgenommen, in Salzburg die Person anzusprechen, die auf Platz 29 saß. Natürlich ohne Ida zu erwähnen.

Die Dame war eine Frau. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und über ihrem linken Knie war ein kleiner Leberfleck. Die Karte war eine Rückgabe und als sie hörte, sie säße auf einem Platz von Paul, sagte sie, er säße eher auf einem Platz von ihr, was Paul nicht verstand, aber charmant fand. Auch sagte sie, es wäre ein Glückstag. Sie wäre schon dreimal in Schlechtwetter geraten und im Schauspielhaus gelandet. Auf der Bühne seufzte der Jedermann unter der Last der Einsamkeit. Alle hatten ihn verlassen, selbst die Buhlschaft. Nur Werke blieb, die Symbolfigur seiner Taten. Den Auftritt des Glaubens hatte man gestrichen. Paul fand, es zählte auch, was ein Mensch versucht hatte, welche Ziele er sich gesetzt hatte. Ein Paul vor Paul hatte deshalb vor Jahren die Geflogenheit der drei Wünsche eingeführt.

»Auf Wiedersehen«, sagte die Dame, die eine Frau war. »Wo?«, sagte Paul. »Übermorgen bei Schubert im Mozar-teum«.

Paul stellte sich im Kartenbüro an.

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