nd-aktuell.de / 04.08.2001 / Politik
Er legte den Grundstein zur Hochenergiephysik
Vor 100 Jahren wurde der US-Physiker Ernest O. Lawrence geboren
Martin Koch
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt die kosmische Höhenstrahlung als beste und vor allem billigste Quelle für hochenergetische Teilchen. Leider hatte dieses Geschenk des Himmels einen entscheidenden Nachteil: Niemand konnte Einfluss auf die Art und Menge der Teilchen nehmen, die man für bestimmte Versuche, etwa die Zertrümmerung von Atomen, benötigte. Das gab den Anstoß für den Bau so genannter Teilchenbeschleuniger, an dem der amerikanische Physiker Ernest Orlando Lawrence maßgeblich beteiligt war.
Am 8. August 1901 in Canton (US-Bundesstaat South Dakota), als Sohn norwegischer Einwanderer geboren, studierte Lawrence an verschiedenen amerikanischen Universitäten, bevor er 1925 an der Yale-University in New Haven (Connecticut) promoviert wurde. Drei Jahre später ging er nach Berkeley, an die University of California, die ihn 1930 zum Professor für Physik berief. Beim Blättern im »Archiv für Elektrotechnik« stieß er 1929 zufällig auf eine Zeichnung des norwegischen Ingenieurs Rolf Wideröe, die ihn auf die Idee eines ringförmigen Teilchenbeschleunigers, des so genannten Zyklotrons, brachte.
Bis dahin existierte nur ein linearer Beschleuniger, den Wideröe einige Monate zuvor entworfen hatte und dessen Prinzip noch heute Anwendung findet. Darin durchlaufen die Teilchen eine lange Reihe hintereinander geschalteter Beschleunigungskammern, an die hochfrequente elektrische Wechselfelder angelegt sind. Die Frequenz wird so eingestellt, dass die Teilchen immer dann nach vorn beschleunigt werden, wenn sie gerade die Lücke zwischen zwei Kammern passieren. Grundsätzlich lassen sich mit einer solchen Anordnung höchste Energien erreichen, sofern man in Kauf nimmt, dass auch die Beschleunigungsstrecken immer länger werden. Die Physiker im kalifornischen Stanford haben das in Kauf genommen. Der weltweit größte und stärkste Linearbeschleuniger, den sie derzeit betreiben, ist 3,2 Kilometer lang und besitzt annähernd 100000 Beschleunigungskammern. Darin können Elektronen auf Energien von maximal 50 Gigaelektronenvolt (50 Milliarden Elektronenvolt) gebracht werden.
Einen ganz anderen Weg beschritten dagegen Lawrence und seine Kollegen. Sie waren seit den 30er Jahren bestrebt, die Teilchen auf einer Kreisbahn zu halten, so dass diese die Beschleunigungsstrecke gleich mehrmals durchlaufen konnten. Zu diesem Zweck besitzt das Zyklotron einen starken Magneten, zwischen dessen Polen eine Vakuumkammer liegt. Darin befinden sich zwei D-förmige Elektroden, Duanten genannt, die durch einen schmalen Spalt voneinander getrennt sind. Jedes Mal, wenn die Teilchen den Spalt passieren, werden sie elektrisch beschleunigt. Dabei nehmen sie Energie auf, so dass der Radius ihrer spiralförmigen Bahn immer weiter anwächst. Schließlich gelangen sie an den Rand der Kammer, wo sie mit Hilfe eines Deflektors auf ein Target gelenkt werden.
Das erste Zyklotron, das Lawrence 1930 konstruierte, hatte einen Durchmesser von etwa zehn Zentimetern. Es beschleunigte ionisierte Wasserstoffmoleküle auf eine Energie von 80 Kiloelektronenvolt. Bereits wenige Monate später baute er ein zweites Gerät mit einem Durchmesser von 27,5 Zentimetern, das eine Teilchenenergie von 1,2 Megaelektronenvolt lieferte. Heute steht das weltgrößte Zyklotron mit Namen TRIUMF an der University of British Columbia in Vancouver. Es kann Protonen auf 500 Megaelektronenvolt beschleunigen. Sein Magnet besitzt einen Durchmesser von 16,5 Metern und wiegt 4000 Tonnen. Bekanntlich gibt es neben dem Zyklotron längst leistungsstärkere Beschleuniger, die zu den größten und teuersten Apparaturen der Physik zählen: Synchrozyklotron, Betatron, Synchrotron, Speicherring-Collider.
Auch Lawrence hatte alle Mühe, für seine Konstruktionen Geldgeber zu finden. Da er sich überdies mehr für die Gerätetechnik als für die kernphysikalische Forschung interessierte, entgingen ihm wichtige wissenschaftliche Entdeckungen. Zum Beispiel die der künstlichen Radioaktivität, mit der Irène und Frédèric Joliot-Curie 1935 den Nobelpreis errangen. Bereits ein Jahr vor den Franzosen hatte Lawrence in seinem Zyklotron große Mengen von strahlenden Substanzen erzeugt, ohne im Entferntesten zu ahnen, dass er von künstlicher Radioaktivität umgeben war. In ähnlicher Weise »übersah« er einige Jahre später die Kernspaltung. Dennoch wurden in seinem Laboratorium zahlreiche radioaktive Isotope entdeckt. Darüber hinaus entwickelten er und sein Bruder ein medizinisches Forschungsprogramm zur Krebsbekämpfung. Und auch die ersten »echten« Transurane erblickten in Berkeley das Licht der Welt. Ihm zu Ehren trägt das chemische Element mit der Ordnungszahl 103 heute den Namen Lawrencium.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges gab Lawrence sich isolationistisch. Später, als die Nazis England attackierten, half er seinen britischen Kollegen bei der Radarforschung. Eine militärische Nutzung der Kernenergie erklärte er zunächst für Sciencefiction. Doch nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor stellte er sein Labor sofort in den Dienst des US-Atombombenprojekts. Schwerpunkt seiner Arbeit war die elektromagnetische Isotopentrennung. Mit Hilfe des von ihm entwickelten Massenspektrographen »Calcutron« (nach California University Cyclotron) wurde in Oak Ridge das Uranisotop U hergestellt, das in der Hiroshima-Atombombe zum Einsatz kam.
Von 1936 bis zu seinem Tod wirkte Lawrence als Direktor des Radiation Laboratory, das heute Lawrence Berkeley National Laboratory heißt. 1939 erhielt er für die Konstruktion des Zyklotrons den Nobelpreis für Physik. In den 50er Jahren erfand und entwickelte er ein Farbfernsehsystem, ohne dass die Industrie davon Notiz nahm. Am 27. August 1958 starb Lawrence in Palo Alto an den Folgen einer Dickdarmentzündung.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/2835.er-legte-den-grundstein-zur-hochenergiephysik.html