nd-aktuell.de / 19.01.1991 / Kommentare / Seite 10

Aufarbeitung verweigert

Barbara Just-Dahlmann und Helmut Just, Staatsanwältin und Richter in Mannheim, wurden ab 1960 beruflich und persönlich mit der unrühmlichen Rolle des größeren Teils der Justiz nach 1945 konfrontiert. In ihrem 1988 erschienenen Buch „Die Gehilfen. NS- Verbrechen und die Justiz nach 1945“ schildern und dokumentieren sie ihre Erfahrungen mit Politik, Justiz und Rechtswissenschaft. Sie initiierten beispielsweise einen Brief des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit vom 12. März 1963 an sämtliche Strafrechtslehrer der Bundesrepublik, in dem an deren Verantwortung zur Aufklärung und angemessenen Sühne aller NS-Verbrechen appelliert wurde: „Die Reaktion war – ganz im Gegensatz zu unseren doch wohl berechtigten Erwartungen – dürftig: Von den angeschriebenen 58 Strafrechtslehrern antworteten nur neun.“

Ähnliche Erfahrungen mußte der Publizist Rolf Seeliger, München, sammeln. Er gab 1964 bis 1968 sechs Hefte einer Schriftenreihe „Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute“ heraus, daneben das Heft „Doktorarbeiten im Dritten Reich“ (1966). Die Möglichkeit rückblickender persönlicher Äußerung wurde von vielen Betroffenen verweigert; andere benutzten sie zur Selbstrechtfertigung.

Die herausragende Stellungnahme jener Jahre in der Debatte um die Nichtverjährung der NS-Verbrechen erschien von dem Philosophen Karl Jaspers. Sie schloß das Urteil über den NS-Staat, seine' Diener und deren Ausflüchte nach 1945 ein: Wenn „die Leute im Zusammenhang des Staatsapparates gehandelt haben und wußten, was geschieht, so ist die Staatlichkeit ihres Tuns für sie keine Erleichterung ihrer Schuld; denn es war ein Verbrecherstaat. In dieser Auffassung scheiden sich die Geister“. (Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966) Diese Scheidung besteht bis heute fort.

In den sechziger Jahren bewirkte die kritische Studentenbewegung auch zu diesem Thema einen Durchbruch. Unter Mitwirkung auch von persönlich betroffenen Hochschullehrern wurde in Vorlesungsreihen, Dokumentationen, Flugschriften und Diskussionen ein Tabu von rund zwei Jahrzehnten westdeutscher Hochschulpolitik durchbrochen. Die Kontroversen um „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth und „Die Ermittlung“ von Peter Weiß beförderten einen weiteren Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Neben den erwähnten Publikationen legten in den achtziger Jahren Benno Müller-Hill, Jörg Friedrich, Ernst Klee, Helga und Hermann Fischer-Hübner u. a. problem- und materialreiche Analysen zu diesem Kapitel BRD- Geschichte vor.

Es ist nicht zufällig, daß die Rechtswissenschaft dabei exemplarisch in den Vordergrund tritt. Zugleich ist anzumerken, daß sich die skizzierten historisch-politischen und ethischen Maßstäbe und Fragen an allen Wissenschaftsgebieten vorführen und erörtern lassen.