nd-aktuell.de / 19.01.1991 / Kommentare / Seite 10

Einklagbarer Anspruch

Einige besonders exponierte Nazi-Professoren seien anfangs suspendiert worden. Die große Mehrheit der Ordinarien hatte im Dritten Reich Karriere gemacht oder war stramm konservativ und hatte sich im günstigen Fall opportunistisch und änpaßlerisch verhalten: „Und als die Rektoren der Hochschulen der amerikanischen Zone sich im November 1945 in Heidelberg erstmals wieder versammelten, gab 'es Anträge und Forderungen zur Ablehnung jeglicher Demokratisierung und studentischen Mitbestimmung sowie zur Wiederberufung der suspendierten NS-Kollegen. Niemand forderte die Reintegration der exilierten Wissenschaftler.“

Diese Tendenzen wurden für die folgenden Jahre bestimmend. Der Vergleich mit der Ende 1989 von Bonn vorgegebenen und von Landesregierungen im Osten Deutschlands vollzogenen „Abwicklung“ wissenschaftlicher Einrichtungen und Gebiete ist recht aufschlußreich. Solche weitreichenden administrativen Eingriffe in die Hochschulen hat es damals nicht (und auch nie zuvor in der Geschichte) gegeben. Mit anderen Worten: Die Besatzungsmächte auf dem Territorium eines opferreich niedergeworfenen barbarischen Gegners sahen keinen Anlaß für flächendeckende strukturelle und.personalpolitische Liquidationen, eingeschlossen akademische Bereiche, die bis in die Schlußphase ein blutbeflecktes System gerechtfertigt unri unterstützt hatten.

Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde der restaurative Trend auch in Hochschule und Wissenschaft legitimiert und verstärkt. Die Rechtsgrundlage dafür bildete Artikel 131 des Grundgesetzes und die zu seiner Verwirklichung erlassenen Gesetze und Vorschriften zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Personen, „die am

8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamtenoder tarif rechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden“.

Der Rechtswissenschaftler Ludwig Raiser, von 1951 bis 1955 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 1961 bis 1965 Vorsitzender des Wissenschaftsrates, äußerte 1966 rückblickend, daß die Entnazifizierung auf halbem Wege steckengeblieben sei: „Im weiteren Verlauf hat das vom Bundestag 1951 zur Ausführung des Artikels 131 GG erlassene Gesetz viel zur Verwischung der Ergebnisse beigetragen.“ Es „nötigte die Fakultäten jahrelang, bei Berufungen auf vakante Lehrstühle in erster Linie die auf einer dafür aufgestellten Warteliste stehenden Hochschullehrer zu berücksichtigen“.

Auch Otto Bachof, Rechtswissenschaftler in Tübingen, berichtete im Jahre 1965: Es sei „viel zu wenig bekannt, daß noch bis vor kurzer Zeit bei jeder Berufung an Hand einer vom Bundesinnenministerium zusammengestellten Liste von noch nicht untergebrachten 131er Hochschullehrern geprüft werden mußte, welche der dort aufgeführten Personen für die Besetzung des Lehrstuhls fachlich in Frage kamen. Dem Kultusministerium gegenüber war eingehend zu begründen, wenn und warum ein in die Liste aufgenommener Hochschullehrer etwa nicht berücksichtigt werden sollte“.

Das “131er-Gesetz“ vom 11. Mai 1951 und seine Novellierung im August 1953 haben, schreibt I. Müller, „allen NS-Staatsdienern einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung“ und auf Nachforderung der Bezüge für die Zeit der Nichtbeschäftigung gegeben, ausgenommen wenige als „Haupttäter“ eingestufte Personen. Dieser Rechtsanspruch und eine mit Androhung von Geldstrafen verbundene Quotenregelung bewirkten, daß über 90 Prozent der nach 1945 entlassenen Nazi-Beamten in den Staatsdienst zurückkehrten. Da die öffentlichen Mittel begrenzt und die Beamtenstellen überbesetzt waren, so bringt Müller die Dinge auf den Punkt, „war faktisch Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst die ehemalige Mitgliedschaft in der NSDAP“