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  • Politik
  • Türkei hofft, aus dem Tränental heraus zu sein

Im Garten des Serail blühen winters die Rosen

  • GISELA HENTGES
  • Lesedauer: 4 Min.

Die ausländischen Gäste in der Tagesbar des kleinen Hotels „Spor“ am asiatischen Ufer von Istanbul horchen auf, als am frühen Abend des trüben Dezembertages eine Kavalkade von Autos unter Martinshorngeheul vorbeiprescht. „Das war unser Präsident. Turgut Özal fährt zurück nach Ankara“, sagt ein Mann, der sich als türkischer Boxer und Catcher vorstellt. Vor allem in Deutschland hat er – wie wir erfahren – sein Glück gemacht und das große Geld. Gar Weltmeister im Catchen sei er gewesen. Nun lebt er mit seiner Frau in Rastatt im Badischen.

„Der Präsident hat heute in Istanbul ein neues Technikum eröffnet. Das habe ich im Radio gehört“, erzählt der sympathische Riese. In einer Rede vor den Studenten habe der Staatschef erklärt, wenn der Nachbar in Not sei, müsse man helfen. Und die Türkei lasse ihre Nachbarn – Sowjetunion und Bulgarien – nicht im Stich. Finanziell stehe seine Heimat in der Tat nicht eben schlecht da. Sie sei ja, bemerkt der Catcher lakonisch, vom Kommunismus verschont geblieben.

Anderntags kann man Özals Worte in der Presse lesen: „Zehn Jahre nach der Zeit, da wir uns schämten, einen Millionen-Dollar-Kredit von Luxemburg zu erbitten, sind wir heute in der Lage, der Sowjetunion eine Milliarde Dollar, Ungarn und Rumänien je 50 Millionen und Bulgarien 100 Millionen Dollar Kredit zu geben. Von all den Ländern rings um uns herum sind wir am weitesten.“ Zwischen der Türkei und den anderen Staaten klaffe eine tiefe Kluft. „Kein einziges unserer Nachbarländer kann sich mit uns vergleichen. Nicht einmal Griechenland, obwohl es Mitglied der EG ist.“ Tatsächlich: Aus dem Morast, in dem die türkische Wirtschaft vor einem Jahrzehnt steckte, ist sie zweifelsohne heraus.

Bei einem Donnerschlag fahren die Hotelgäste zusammen. Wassermassen stürzen die Straße hinab. So etwas habe er im Dezember in Istanbul noch nie erlebt, meint unser Rastatter Türke. „Der Himmel rächt sich.“ Zu oft habe man hier Regenmacher gespielt. Mit Wetterraketen die Wolken angezapft. Doch die Stauseen sind so gut wie leer. 1989 ging nur ein Drittel der normalen Niederschläge über der

Stadt nieder. Was das Wasserdefizit anbelangt, teilt die Türkei die Nöte aller Balkanländer.

Wir wollen wissen, wie es um das Wasser im Hotel bestellt sei. Die Verständigung ist nun – unser Dolmetsch hat sich verabschiedet – schwierig. Sprachliches Catchas-Catch-Can will nicht so recht klappen. Da rutschen uns einige bulgarische Brocken heraus. Zu unserem Erstaunen kommt eine bulgarische Antwort. Doch so verwunderlich ist's eigentlich nicht: Schließlich leben Tausende bulgarische Türken in Istanbul.

So auch der kaum 20jährige Ahmed, Mädchen für alles in dem Hotel. Wann seine Familie Bulgarien verlassen habe? „Vor einem halben Jahr.“ Zuvor lebten sie in Schumen. Doch „Heimat“ nennt er Bulgarien weiterhin. Noch immer hält die Auswanderung an, die 1989 infolge der unseligen Bulgarisierungskampagne des Shiwkow-Regimes eingesetzt hatte.

Anderntags ist der Himmel über dem Bosporus wie blankgewaschen. In der Morgensonne erglänzt die Märchenstadt. Nach Istanbul gelockt hatten uns die Hagia Sophia, die blaue Moschee, und der am Bosporus gelegene Sultanspalast, von wo aus der Blick hinüberwandert nach Asien. Und tatsächlich geschieht uns Mitteleuropäern ein Wunder: Im Garten des Serail blühen Ende Dezember die Rosen.

„Man wird Sie wie Paschas behandeln“, hatte der Rastatter prophezeit. „Um diese Jahreszeit gibt es nur wenige Touristen.“ Gerufen haben wir die dienstbaren Geister nicht. Doch los werden wir sie nun nur schwer, die fliegenden Teppich-, Ansichtskarten- und sonstigen Händler. Auf den Basaren faszinieren uns die Mohrrüben – eine ebenso lang und so dick wie die andere. Gardemaß gewissermaßen.

Später, wieder in Sofia, fragen bulgarische Bekannte, wie es denn so sei, dort in der Türkei. Wir antworten: So, wie wir uns vor Jahren, bevor wir nach Bulgarien kamen, Bulgarien immer vorgestellt haben. So wie es ein altes, aus präsozialistischer Zeit stammendes Kochbuch vorgegaukelt hatte: ein Land, mit überquellenden Obst-, Gemüse-, Fischmärkten. Mit blankpolierten Äpfeln und Früchten des Südens. Mit exotischen Gewürzen und den verlockenden Düften von Okzident und Orient

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