nd-aktuell.de / 19.01.1991 / Politik / Seite 11

Rio de Janeiro – Schmuddelperle des Südatlantik

FRIEDRICH MANN

lockt Rio de Janeiro mit garantiertem Sonnenschein und Temperaturen um die 30 Grad. Ideale Bedingungen für einen Badeurlaub.

Aber schon der erste kritische Blick fegt das Bild hinweg, das Werbeprospekte so erfolgreich zeichnen...

Rio de Janeiro – der Himmel auf Erden? Natürlich nicht. Schon bei den landschaftlichen Reizen muß man Abstriche machen: Umweltverschmutzung und fehlende Infrastruktur zeigen ernste Wirkungen. Die einstmals weißen Strände sind mit Müll bedeckt – Cola-Büchsen, leere Sonnenölflaschen. Noch gefährlicher für die Qualität und damit den Ruf der Strände sind die Abwässer der inzwischen von fast 10 Millionen Menschen bewohnten Stadt, die seit Menschengedenken ungeklärt ins Meer geleitet und bei ungünstigen Wind- und Strömungsverhältnissen ans Ufer zurückgespült werden.

Die Stadtväter von Rio haben dieses Problem durchaus erkannt. Doch in Anbetracht der permanenten finanziellen Nöte war guter Rat bisher teuer, ja unbezahlbar. Das soll nun anders werden. Umgerechnet rund 1,5 Milliarden DM will die Zentralregierung in Brasilia bereitstellen, damit bis zum Jahre 2000 Rio de Janeiro wieder eine saubere Stadt wird. Bereits Mitte

1992 sollen erste konkrete Ergebnisse sichtbar sein.

Dann nämlich ist Rio Gastgeber einer internationalen Konferenz zu Fragen des Umweltschutzes und der Entwicklung: Auf Einladung der Vereinten Nationen werden rund 170 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt zum bisher größten Treffen dieser Art in der brasilianischen Atlantikmetropole zusammenkommen.

So positiv die Wirkungen dieser UNO-Weltkonferenz für Rio sein werden, das entscheidende Problem dieser Stadt bleibt davon ausgeklammert: die schier grenzenlose Kriminalität.

Die Gefahr, Opfer eines Raubüberfälls oder eines Taschendiebstahls zu werden, ist während des

berühmten Karnevals von Rio am größten. Immer weniger Besucher sind bereit, für dieses Risiko auch noch teures Geld zu bezahlen. Ja, teures Geld: In der „normalen“ Saison sind Hotel- und Restaurantpreise durchaus erschwinglich – in den Tagen des Karnevals verdreifachen sie sich. Und für einen einigermaßen guten Sitzplatz im berühmten „Sambadrom“, der mit Tribünen umbauten Straße des großen Karnevalsumzuges, muß man schon ein paar hundert Mark auf den Tisch blättern.

Doch Rios Tourismusindustrie lebt nicht allein vom Karneval. Viel wichtiger ist den Unternehmern eine möglichst hohe Auslastung aller Kapazitäten über das ganze Jahr hinweg. Aber gerade hier

wirkt der Ruf Rios als „tropisches Chicago“ verheerend.

Zwei Formen der Kriminalität bestimmen das Leben: Zum einen versuchen die Täter, mit kleineren Straftaten für sich und ihre Familien das Lebensminimum zu sichern. Angesichts einer unvorstellbaren Not in den favelas, den Elendsvierteln der Stadt, und einer extrem hohen Arbeitslosigkeit sind Diebstahl, Prostitution und die einem Trickbetrug gleichenden Formen der Bettelei oftmals die einzige Chance im täglichen Überlebenskampf.

Die andere Art der Kriminalität sind Gewaltverbrechen von unvorstellbarer Brutalität, bei denen es um Millionenbeträge geht. Rauschgift ist ein wichtiges Stichwort. Doch in den letzten Monaten waren

es vor allem Entführungen, die Rios Einwohner in Angst und Schrecken versetzten. Ein Menschenleben zählt da nicht viel, und die Polizei steht den Ereignissen meist hilflos gegenüber. Die Stadtbewohner greifen zu teilweise grotesken Formen des Selbstschutzes. Die Wohnung wird zur Festung, die sonst so geselligen Cariocas ziehen sich zurück, meiden die Öffentlichkeit, wann immer es geht.

Findige Geschäftsleute verstehen es, auch aus Not und Verbrechen ihren Profit zu ziehen: Zu den neuesten Touristik-Angeboten in Rio zählen „Besichtigungstouren“ in die favelas. Entsprechende Abkommen der Reiseveranstalter mit den örtlichen Bandenchefs garantieren den „Abenteuer-Urlaubern“ Nervenkitzel ohne jedes Risiko...